Medienkonferenz zur Präsentation der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch mit (v.l.:): Renata Asal-Steger (RKZ), Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller (Uni Zürich Media Relations), Marietta Meier, Monika Dommann (beide Projektleiterinnen) und Jacques Nuoffer (Betroffenenorganisation Sapec). | © Christoph Wider
Medienkonferenz zur Präsentation der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch mit (v.l.:): Renata Asal-Steger (RKZ), Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller (Uni Zürich Media Relations), Marietta Meier, Monika Dommann (beide Projektleiterinnen) und Jacques Nuoffer (Betroffenenorganisation Sapec). | © Christoph Wider
12.09.2023 – Aktuell

«Wir wissen nicht, wie gross der Eisberg unterhalb des Wassers ist»

Forschungsteam und Auftraggeber orientieren über Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch

Im Rahmen der Pilotstudie zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz hat das Forschungsteam 1002 Fälle identifiziert. Das sei nur die Spitze des Eisbergs, sagte Projektleiterin Marietta Meier an der Medienkonferenz.

Auch die Schweiz also: Die Ergebnisse der Pilotstudie machen deutlich, dass es in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz punkto sexuellen Missbrauchs nicht um Einzelfälle, sondern um ein Problem mit Wurzeln im System geht. Der kritische Blick auf das System sei vermieden worden, heisst es dazu in einer Medienmitteilung der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK), der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und der Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS). Die drei Institutionen hatten die Universität Zürich mit einer historischen Untersuchung beauftragt.

Am 12. September orientierten das Forschungsteam und die Auftraggeber über die Ergebnisse der Studie und das weitere Vorgehen. Die zentrale Erkenntnis der Untersuchung lautet: «Die meisten Fälle, die den Kirchenverantwortlichen bekannt wurden, wurden nicht aufgeklärt, sondern verschwiegen, vertuscht oder bagatellisiert.» Die Verantwortungsträger haben beschuldigte und überführte Kleriker systematisch versetzt, zuweilen auch ins Ausland. Dies um eine weltliche Strafverfolgung zu vermeiden oder eine weitere Beschäftigung der Kleriker zu ermöglichen. Möglich wurde dadurch auch die Fortsetzung des Missbrauchs, teilweise über Jahrzehnte.

Strukturen, die Missbrauch begünstigen

«Was heute präsentiert wird, beschäftigt uns schon lange, bedrückt und beschämt uns», sagte Renata Asal-Steger, Präsidentin der RKZ. Lange sei am Thema vorbei geredet worden. Eine Gesamtsicht habe bisher gefehlt. Das Forschungsteam habe mit begrenzten Ressourcen enorm viel aus dem Dunkel ans Licht geholt. Ein besonderes Augenmerk der Forscherinnen und Forscher des Historischen Seminars der Uni Zürich galt den Strukturen, die den Missbrauch begünstigten oder gar ermöglichten. Die im Rahmen der Studie identifizierten 1002 Fälle gäben einen ersten, vorläufigen Eindruck von der Menge der Betroffenen und der Allgegenwart des Problems, sagte Marietta Meier, eine der beiden Projektleiterinnen. Bei der Zahl handle es sich um die Spitze eines Eisbergs. «Wir wissen nicht, wie gross dieser Eisberg unterhalb des Wassers ist.»

Die Missbräuche im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz können zu einem grossen Teil drei sozialen Räumen mit unterschiedlichen Machtkonstellationen zugeordnet werden, führte Lucas Federer, Historiker und Mitglied des Forschungsteam, aus. In deutlich mehr als 50 Prozent der Fälle fand der Missbrauch in der pastoralen Arbeit statt. Gewisse Teilbereiche der Pastoral waren besonders anfällig: die Seelsorge, der Ministrantendienst und der Religionsunterricht. Rund 30 Prozent der ausgewerteten Fälle wurden in Institutionen des Bildungs- und Fürsorgebereichs der katholischen Kirche verübt. Nur knapp zwei Prozent der identifizierten Fälle sind dem Bereich der Orden und ähnlichen Gemeinschaften zuzuordnen.

Warum erst jetzt?

Wie sind die Verantwortlichen mit dem sexuellen Missbrauch umgegangen? Zwar bestehen kirchliche Strafrechtsbestimmungen, diese seien aber in der Praxis kaum angewandt worden, hielt Lorraine Odier, Historikerin und Mitglied des Forschungsteam, an der Pressekonferenz fest. Der Schutz der Institution Kirche, der Täter und der Verantwortungsträger sei im Vordergrund gestanden, nicht jener der Betroffenen. Zu den dabei angewandten Strategien gehörte insbesondere das Versetzen von überführten Tätern. Ein Wandel sei erst ab dem 21. Jahrhundert ersichtlich.

Warum dauerte es so lange, bis sich auch die Schweiz zu einer Untersuchung entschloss? Intern habe die römisch-katholische Kirche schon lange um eine wissenschaftliche Untersuchung gerungen», sagte Projektleiterin Monika Dommann. «Zu lange.» Für das Forschungsteam sei es klar gewesen, dass es zunächst um eine Pilotstudie gehen würde, auch um die konkrete Kooperationsbereitschaft der Kirche zu testen. Die römisch-katholische Kirche hätte den Forschungsprozess vor mindestens 20 Jahren anstossen müssen. Einen Vorteil hat das lange Zuwarten: Man könne von den Studien in anderen Ländern lernen und die dabei begangenen Fehler vermeiden, sagte Dommann. Als Schwerpunkte für die zukünftige Forschung nannte Dommann: Eigenheiten des katholischen Milieus; Mitverantwortung des Staates; katholische Spezifika wie Sexualmoral, Zölibat, Geschlechterbilder, ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität. Zudem empfiehlt das Forschungsteam eine quantitative Studie.

Regula Vogt-Kohler

 

Den Bericht zur Studie und weitere Unterlagen findet man hier.