Der 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene UNO-Generalskeretär Dag Hammarskjöld liefert eines der sechs Lebensbilder im Buch «Heilig» (Büste des dänischen Bildhauers Sven Lindhart, Hochschule in Jönköping). | © Bent Oberger / wikimedia
Der 1961 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommene UNO-Generalskeretär Dag Hammarskjöld liefert eines der sechs Lebensbilder im Buch «Heilig» (Büste des dänischen Bildhauers Sven Lindhart, Hochschule in Jönköping). | © Bent Oberger / wikimedia
01.12.2020 – Aktuell

«Der Stoff, der aus mir einen heiligen Menschen machen kann»

«Heilig», eine Publikation der Evangelisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission ERGK

Heilige sind keine entrückten Superhelden, sondern Menschen, die nach Gott suchen und seine Liebe in ihrem Lebensumfeld aufscheinen lassen. Dies kommt im Buch «Heilig» durch sechs Lebensbilder zum Ausdruck. Mitautorin Annemarie Schobinger erzählt, wie es zu dem Buch kam und welche Chancen die Beschäftigung mit einer*einem Heiligen bietet.

Wer ist heilig? Wie würden Sie das beschreiben?

Annemarie Schobinger: Es ging uns in der ERGK darum, diesen Begriff im ökumenischen Dialog zu klären. Die Katholiken haben Abstand genommen von einer Heiligenverehrung, die manchmal fast ins Magische abgerückt war. Und die Reformierten haben sich distanziert von der radikalen Ablehnung der Heiligenverehrung. Da hatten wir uns gefunden. Nach christlichem Glauben ist Heiligsein im Taufsakrament begründet.

In der Taufe wird der Mensch christusförmig. Diese Christusförmigkeit gilt es das ganze Leben lang zur Entfaltung zu bringen. Ein Heiliger ist also ein Mensch, der völlig von Christus durchdrungen ist, der durchsichtig ist auf Christus. Heiligsein ist die normale Berufung des getauften Christen und nicht eine Ausnahme. Das feiern wir an Allerheiligen. Deshalb ist nicht nur der Mensch heilig, der etwas Aussergewöhnliches vollbringt. Die Berufung eines Nikolaus von Flüe, den ich sehr verehre, können wir nicht nachahmen. Nichts essen, nichts trinken, die Familie verlassen, in einer Einsiedelei leben – das ist aussergewöhnlich.

Die Betonung des Aussergewöhnlichen hat im Katholizismus dazu geführt, dass man die Heiligen bestaunt hat und sich sagte: «Wunderbar, aber natürlich nicht für mich». Und somit war man dispensiert. Doch – es gilt auch für mich, aber nicht unbedingt das Aussergewöhnliche. Nikolaus hat sein Heiligsein auch schon vorher gelebt in der Politik, im Gericht, in der Familie, als Bauer …

Wie kam die ERGK auf die Idee, ein Buch über das Heiligsein zu veröffentlichen?

Wir hatten schon viele, sehr zentrale Themen besprochen, z. B. die eucharistische Gastfreundschaft, das Amtsverständnis, die Frage, was Kirche ist … Bei all diesen Themen kommen wir immer an einen Punkt, bei dem wir stecken bleiben. Am deutlichsten ist dies bei der eucharistischen Gastfreundschaft.

Da kam uns in den Sinn, dass uns das Thema der Heiligen auch entzweit hat und dass es im ökumenischen Dialog fast fehlt, also Brachland ist. Da haben wir uns gedacht, das können wir ja mal beackern und schauen, was dabei herauskommt. Wir sind sehr weit gekommen. Über die Vorstellung, was Heiligkeit christlichen Lebens bedeutet, sind wir uns eigentlich einig.

Gab es bei diesem Thema keine konfessionellen Unterschiede?

Doch, wir sind uns nicht einig darin, was der bereits verstorbene Heilige für eine Funktion hat. Für die reformierte Kirche ist es undenkbar, dass man Heilige um ihre Hilfe anruft. Damit würde man ausdrücken, dass das Erlösungswerk Christi nicht genügt. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass das im katholischen Verständnis nicht so gemeint ist, sondern dass es im Sinn der Gemeinschaft der Heiligen, zu der wir auch gehören, eine Art «Familienangelegenheit» ist. In dem Sinne: «Du hast es geschafft. Kannst du mir da weiterhelfen? Du bist ja am Ziel, du bist bei Gott, du siehst es ja viel besser als wir.»

Pfarrer Dr. Martin Hirzel von der reformierten Landeskirche erzählte mir, dass der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist, der seinen Vater früh durch einen Unfall verloren hatte, eine sehr starke Beziehung zu seinem verstorbenen Vater entwickelt habe. Für ihn sei der Vater wie eine Brücke geworden zu Gott. Als Kind hätte er sich gesagt, dass der liebe Gott nicht immer Zeit habe, aber der Vater habe Zeit und so könne er ihn um Rat fragen. Pfarrer Hirzel sagte zu mir: «Als ich das las, ging mir ein wenig auf, was für euch Katholiken die Fürsprache der Heiligen bedeutet.»

Die Lebensbilder der sechs dargestellten Personen stehen für viele andere Heilige. Wie wurden diese Personen ausgewählt?

Ganz nach dem Geschmack der Autor*innen. Wir sind sechs Mitglieder in der Kommission. Jedes Mitglied hat sich eine Person ausgewählt, in deren Lebensform sich etwas findet, was wir als heilig bezeichnen. Dadurch sind auch Personen aus ganz verschiedenen Lebensbereichen zur Sprache gekommen, alle aus der jüngeren Vergangenheit.

Etty Hillesum war z. B. keine Christin. Sie stand dem Christentum sehr nahe, aber auch dem Judentum, Jochen Klepper war ein Lutheraner, Chiara Lubich gehörte der Fokolarbewegung an. Und Madeleine Delbrêl ist für mich die Figur, die am deutlichsten in die Laienwelt übersetzt, was Therese von Lisieux mit ihrer Lehre des kleinen Weges formuliert hat. Da, wo ich bin, das, was ich zu tun habe, das Hier und Jetzt, das ist der Stoff, der aus mir einen heiligen Menschen machen kann. Man braucht nichts anderes zu suchen.

Welchen Charakter haben die Darstellungen der sechs Personen?

Bei allen Porträts steht die Hingabe an Gott im Zentrum, der mich führt, der mich prägt. Sie zeigen auf: Wenn ich mich ihm überlasse, dann führt er mich zum Ziel. Damit verbunden ist eine ganz tiefe Lebensfreude, auch in ganz schwierigen Situationen, bei Etty Hillesum im Sammellager für holländische Juden, bei Madeleine Delbrêl im Elend der Arbeiterquartiere. Man erlebt immer diese strahlende Freude aus der Überzeugung heraus: «Ich trage Gott in mir, er ist da, ganz konkret».

Interview: Detlef Kissner

Die ungekürzte Fassung des Interviews erschien in «forumKirche», dem Pfarreiblatt der Bistumskantone Schaffhausen und Thurgau (Nr. 20/2020).

Die Evangelisch/Römisch-katholische Gesprächskommission (ERGK) ist ein gemeinsames Gremium der Bischofskonferenz und der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Die Dialogkommission bespricht pastorale Fragen des ökumenischen Zusammenlebens – zum Beispiel betreffend Mischehen, der gegenseitigen Anerkennung der Taufe, der ökumenischen Gottesdienste. Annemarie Schobinger, Mitautorin des Buchs «Heilig» ist Co-Präsidentin der ERGK.