Kinder können das: Die Welt um sich herum vergessen und ganz in ihrem Spiel aufgehen. | © zVg
Kinder können das: Die Welt um sich herum vergessen und ganz in ihrem Spiel aufgehen. | © zVg
15.10.2020 – Impuls

Matthäus 19,27–29

In jener Zeit sagte Petrus zu Jesus: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? Jesus erwiderte ihnen: Amen, ich sage euch: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben erben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Weniger ist oft mehr

«Du weisst, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.» Heute würde man die Jünger Jesu wohl als «Aussteiger» bezeichnen. Aussteiger gehen auf Distanz zum bürgerlichen Leben, suchen die Abgeschiedenheit, leben alternativ und brechen mit den normalen Konventionen.

Auch der heilige Wendelin ist so ein «Aussteiger». Als iro-schottischer Königssohn verlässt er sein Elternhaus, sein Hab und Gut und seine Heimat und entscheidet sich für ein Leben als Einsiedler. Doch neben der Bewegung des Aussteigens, des «Sich-Abwendens» von der Welt, ist vor allem die andere Bewegung, das «Sich-Zuwenden» von grosser Bedeutung. In einer besonders intensiven Weise wendet er sich Gott zu. Indem er seinen Lebensraum stark reduziert, beginnt er ein Leben zu leben, welches sehr konzentriert ist und dadurch an Intensität gewinnt.

Das ist eine Provokation für uns heutige Menschen, die wir auf keinen Fall eingeschränkt und reduziert werden wollen. Es ist eine Provokation für Menschen, die ihre Lebensqualität oft danach bemessen, möglichst überall dabei zu sein, möglichst viel zu haben, möglichst viel mitzubekommen oder möglichst viel zu konsumieren. «Nur ja nichts verpassen» scheint oft das Motto zu sein.

Ein Einsiedlerleben ist das Gegenmodell. Es sagt uns, dass wir im Leben nicht dadurch glücklich werden, dass wir möglichst viel mitnehmen und an allem festhalten. Nicht die Menge an Erlebnissen bestimmt die Qualität unseres Lebens, sondern die Intensität. Intensiv leben kann ich vor allem dann, wenn es mir gelingt, hingebungsvoll bei einer Sache zu sein.

Bei Kindern ist das immer besonders schön zu beobachten, wenn sie die Welt um sich herum total vergessen und ganz in ihrem Spiel aufgehen:

Bei meinem kleinen Neffen war letzte Woche im Kindergarten «Wald-Tag». In Zweierreihe – ausgerüstet mit Überhosen und Stiefeln – sind die Kinder bis zum vorgesehenen Platz im Wald marschiert, wo sie dann ganz frei herumtollen, im Dreck wühlen und Laubhütten bauen durften. Die Kindergärtnerin erklärte, dass bewusst keine Spielsachen und Materialien mitgenommen werden, damit die Kinder lernen, auch ohne die Überfülle an Dingen zu spielen. Und die Kleinen haben hingebungsvoll gespielt, die Zeit vergessen und einfach nur den Moment gelebt.

Ja, weniger ist manchmal mehr. Vielleicht eine Einladung an uns, zwischendurch mal bewusst «auszusteigen» – aus Überzeugung, dass dies unser Leben nicht ärmer, sondern reicher macht!

Wie den meisten Einsiedlern, so ist es auch Wendelin ergangen: Er hat sich zurückgezogen, aber die Menschen suchten den Kontakt zu ihm. Er wurde zu einem begehrten, gefragten Ratgeber. Er ist zwar nicht in die Welt ausgezogen, um die Menschen zu bekehren, aber die Menschen sind zu ihm hingezogen. Und so ist er zum Missionar geworden. Das Leben aus seiner inneren Quelle heraus hat um ihn herum etwas wachsen lassen. Es hat Frucht getragen und auch andere Menschen zum Aufblühen gebracht.

Nadia Miriam Keller, Theologin, arbeitet als Spitalseelsorgerin i.A. am St. Claraspital in Basel und als Pfarreiseelsorgerin i.A. im Seelsorgeverband Angenstein