Das Geschnatter der Gänse vereitelte Martins Flucht vor der Bischofsweihe. | © Reinhard Grieger/pixelio.de
Das Geschnatter der Gänse vereitelte Martins Flucht vor der Bischofsweihe. | © Reinhard Grieger/pixelio.de
29.10.2020 – Impuls

Jesaja 61,1–3a

Der Geist Gottes, des Herrn, ruht auf mir. Denn der Herr hat mich gesalbt; er hat mich gesandt, um den Armen frohe Botschaft zu bringen, um die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung auszurufen und den Gefesselten Befreiung, um ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, einen Tag der Vergeltung für unseren Gott, um alle Trauernden zu trösten, den Trauernden Zions Schmuck zu geben anstelle von Asche, Freudenöl statt Trauer, ein Gewand des Ruhms statt eines verzagten Geistes.

Einheitsübersetzung 2016

 

Was für ein Tumult im Gänsestall …

Mit etwa 14 Jahren begann in meinem jugendlichen Leben eine grosse Begeisterung für Gänse und deren Zucht. Je mehr ich über dieses Tier wusste, umso mehr war ich von ihm begeistert und wollte selbst mein Glück als Gänsehalter versuchen. Besonders die Wachsamkeit der Gänse und ihr Territorialverhalten fand ich faszinierend.

Deshalb erstaunt mich der Ausgang der Überlieferung vom heiligen Martin im Gänsestall keineswegs. Was muss das für ein Tumult gewesen sein! Martin wollte sich darin verstecken, um den Menschen zu entfliehen, die ihn als Bischof haben wollten. Doch er hat in der Eile seiner Flucht nicht daran gedacht, dass ihn die Gänse mit ihrem aufgeregten Geschnatter verraten könnten. Bald darauf fanden ihn nämlich die Leute und brachten ihn nach Tours, wo er zum Bischof geweiht wurde.

Von Martin gibt es eine Vielzahl an Überlieferungen, die ihn als hilfsbereiten und bescheidenen Menschen vorstellen. Da muss im Kern etwas Wahres dran sein! Er hat sich vom Schicksal seiner Mitmenschen berühren lassen und hielt offensichtlich nicht viel von Macht und Prestige. Aus diesem Grund zog er nicht in den Bischofssitz, sondern bezog eine einfache Unterkunft vor den Stadttoren. Seine Karriere war nicht auf menschliche Attribute gerichtet, sondern auf ein entschiedenes christliches Leben.

Das passt sehr gut zur Bibelstelle, die am Festtag des Heiligen gelesen wird. Man muss dazu wissen, dass das Jesajabuch als Buch des Trostes geschrieben wurde nach der Eroberung des Königreichs Judas durch den babylonischen König Nebukadnezar. Des Königs Strategie bestand darin, die gebildete Oberschicht und die Führungselite aus der Heimat nach Babylonien zu verschleppen, um Juda zu destabilisieren. Die Verfasser des Jesajabuches wollen Trost spenden und in dieser schweren Zeit die Hoffnung auf eine gute Zukunft nicht aufgeben.

Der zitierte Bote Gottes will eine frohe Botschaft überbringen, heilen, befreien, trösten und aufbauen. Auch Martin von Tours wird sein Leben an diesen Tätigkeiten orientiert haben. Sein Handeln jedenfalls zeugt davon, dass er einer gewesen sein muss, der andere Menschen aufgebaut und ermutigt hat. Martin ermutigt zum Nachdenken über das Wesentliche des Glaubens: Wo kann ich andere Menschen aufbauen, sie ermutigen und ihnen zur Seite stehen? Oder umgekehrt: Wo erfahre ich Menschen in meinem Leben, die mir zur Seite stehen, mich ermutigen und aufbauen? Sei das im Familien- oder Freundeskreis, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in den zufälligen Begegnungen des Alltags. Überall da verwirklicht sich etwas vom Wesentlichen des Glaubens, wonach auch Martin von Tours gesucht hat.

Mathias Jäggi, Theologe und Sozialarbeiter, arbeitet als Berufsschullehrer