Grossmutter und Enkel: «Du bist vertraut mit all meinen Wegen.» | © FG Trade/iStock
Grossmutter und Enkel: «Du bist vertraut mit all meinen Wegen.» | © FG Trade/iStock
10.08.2023 – Impuls

Johannes 1,45–49

Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus, den Sohn Josefs, aus Nazaret. Da sagte Natanaël zu ihm: Kann aus Nazaret etwas Gutes kommen? Philippus sagte zu ihm: Komm und sieh! Jesus sah Natanaël auf sich zukommen und sagte über ihn: Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist. Natanaël sagte zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. Natanaël antwortete ihm: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!

Einheitsübersetzung 2016

 

Von der Sehnsucht, erkannt zu werden

Wenn mich jemand fragt, was die grösste Sehnsucht des Menschen ist, so würde ich aus meiner Erfahrung als Sozialarbeiter sagen: Die Sehnsucht, in seinem innersten Wesen und in seinem Kern der Persönlichkeit «erkannt zu werden».

In den unzähligen Beratungsgesprächen, die ich über zehn Jahre lang mit Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen führen durfte, ging es stets um Fragen wie «Wer bin ich?», «Was kann ich?», «Was will ich?». Wenn es mir gelang, als Berater diese Dimensionen der Persönlichkeit zu erfassen, dann waren die Gespräche meistens gewinnbringend und lösungsorientiert.

Mein bester Freund hatte ein Erlebnis in seiner Berufslehre, welches auf den Punkt bringt, was ich meine. Er merkte schon am ersten Tag seiner Lehre, dass der gewählte Beruf nicht die richtige Wahl für ihn gewesen war. Trotzdem schloss er die vierjährige Lehre mit besten Noten ab. Sein Lehrmeister meinte am Schluss zu ihm: «Ich werde mich dafür einsetzen, dass du im Warenlager eine Anstellung bekommen wirst.» Damit verkannte er das grosse Potenzial, das in seinem Berufslernenden schlummerte. Er erkannte nicht, was die Persönlichkeit dieses jungen Mannes ausmachte, und er hätte wohl nicht im Traum daran gedacht, dass aus seinem Lehrling ein begabter Jurist und Rhetoriker werden würde.

Die Bibel kennt zahlreiche Begebenheiten, oft sind es Berufungsgeschichten, in denen zum Ausdruck gebracht wird, dass Gott den Menschen in seinem innersten Wesen erkennt. Ich war stets von Psalm 139,1–3 angetan: «Herr, du hast mich erforscht und kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du kennst es. Du durchschaust meine Gedanken von fern. Ob ich gehe oder ruhe, du hast es gemessen. Du bist vertraut mit all meinen Wegen.» Als eine Studienkollegin meinte, sie könne mit so einem Gott, der den Menschen dermassen überwache und kontrolliere, nichts anfangen, war ich perplex. Ich meine, dass sie die Grundaussage nicht verstanden hat. Den Psalm lese ich auch heute noch wohlwollend und erfahre darin einen Gott, der zu mir als Menschen eine ganz nahe, vertrauensvolle und intime Beziehung pflegt. Er hat mich erkannt und ist mir nahe, weil er mein Schöpfer ist.

So ergeht es auch Bartholomäus. Zunächst noch mit Vorurteilen Jesus gegenüber behaftet, macht er die Erfahrung, dass er von ihm im Kern seiner Persönlichkeit erkannt worden ist. Diese Erfahrung führt ihn zum Bekenntnis, und so wird er zum Apostel, zum Boten für Jesus. Nichts steht mehr zwischen ihm und Jesus, er lässt sich ganz auf die Beziehung zu Jesus ein.

Was bedeutet es, zu wissen, dass Gott uns im Kern unserer Persönlichkeit erkennt und ruft? Ich kann darauf bauen, dass Gott, mein Schöpfer, mich kennt, und aus dieser Überzeugung eine persönliche und selbstbewusste Antwort geben auf die Fragen des Lebens: Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich?

Mathias Jäggi, Theologe und Sozialarbeiter, arbeitet als Berufsschullehrer