Manchmal wird man überrascht … zum Beispiel von einer leuchtenden Mohnblume.  | © sunflair/pixabay
Manchmal wird man überrascht … zum Beispiel von einer leuchtenden Mohnblume. | © sunflair/pixabay
17.06.2021 – Impuls

Psalm 126,1–6

Als der Herr das Geschick Zions wendete, da waren wir wie Träumende. Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel … Ja, gross hat der Herr an uns gehandelt. Da waren wir voll Freude. Wende doch, Herr, unser Geschick wie die Bäche im Südland! Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten. Sie gehen, ja gehen und weinen und tragen zur Aussaat den Samen. Sie kommen, ja kommen mit Jubel und bringen ihre Garben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Überraschungen gibts!

Kürzlich am Morgen, na ja, ging ich nicht gerade mit frohem Herzen aus dem Haus und zur Arbeit. Mir war eher bang. Und … alles nahm einen anderen Lauf: Nicht den befürchteten, sondern einen ganz anderen, mit einem überraschenden Besuch und einer grossen, unerwartete Freude.

Strahlende junge Frauen empfingen mich. Ein Besuch, nicht wie erwartet, nein, völlig anders. Die eine Dame kannte ich bereits, jung, Anfang zwanzig, zurzeit in Haft. Sie fiel mir schon mal auf, als ich ihr den gewünschten Koran brachte, wie sie ihn ans Herz drückte. «Mehr brauche ich nicht», meinte sie. Unvergesslich dieser Anblick. Heute bringe ich ihr eine muslimische Gebetskette. Sie war bei ihrer Freundin in der Zelle. Schnell brachten sie mir einen Hocker zum Sitzen. Beide jung, strahlend, hübsch, einander zugewandt, sie empfingen mich wie zwei Sonnen. Ihre Lebensumstände sind aus meiner Sicht traurig. Man nennt sie Sexarbeiterinnen. Ich, im fortgeschrittenen Alter in meiner Welt, in meiner «Blase», wie man so schön sagt; eine, die sich gerne in ein Kloster in die Stille zurückzieht. Und sie in ihrer «Blase». Plötzlich lösten sich die Grenzen auf, ich weiss nicht, wie es passierte, und wir hatten es lustig. Sie waren glücklich, dass ich bei ihnen war, und ich wurde immer fröhlicher. Wären da nicht die Corona-Massnahmen gewesen, wir hätten uns umarmt. Eine Stunde später erzählte mir die Betreuerin, dass die beiden über meinen Besuch unendlich glücklich waren. Nächste Woche darf ich die zweite Gebetskette für die Freundin bringen. Wie freue ich mich darauf!

In der Liturgie des Tages, in Erinnerung an den heiligen Thomas Morus am 22. Juni, wird der Psalm 126 gebetet. Darin ist die Rede von Tränen und Jubel. Wer kennt sie nicht? «Ja, gross hat der Herr an uns gehandelt! Da waren wir voll Freude.» Als Jahwe das Schicksal seines geliebten Volkes wendete, wurde es von Glück erfüllt. Und der Beter fährt fort: «Wende doch, Herr, unser Geschick wie die Bäche am Südland! Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.» Wie tief und wahr sind diese Worte. Thomas Morus war wohl mit Bildung, Einfluss, Mut und unerschütterlichem Humor gesegnet. Er war durch und durch ein grosser Humanist des 15. Jahrhunderts und starb den Märtyrertod.

Das Leben mag gezeichnet sein von Schmerz, einem Verlust, einer Sorge, vielleicht von einem grossen oder, so kann es vordergründig scheinen, nutzlosen Engagement – irgendwann wird wieder Freude am Leben kommen. Ein anderer Psalm singt den folgenden Vers: «Wenn man am Abend auch weint, am Morgen herrscht wieder Jubel.» Etwas salopp ausgedrückt: Am Abend sieht man nur schwarz und die Probleme scheinen so gross wie hohe Berge; am Morgen erwacht man mit Seufzen und Klagen, aber manchmal wird man überrascht von einem freundlichen Blick, einem besonderen Licht, einer neuen Idee oder einer frohen Begegnung mit einem Menschen, einem Tier oder der leuchtenden Mohnblume. Sollten wir nichts davon bemerkt haben, waren unsere Augen vielleicht noch getrübt von Tränen und Traurigkeit.

Möge die Freude von Jesus, dem Christus, durch seine Auferstehung, durch seinen Gang durch die Hölle ins neue Leben, uns anstecken und auf uns überspringen. Seine Freude, sein Leben, seinen Atem teilt er immer mit uns, und zu jeder Zeit.

Anna-Marie Fürst, Theologin, arbeitet in der Gefängnisseelsorge Basel-Stadt.