Sie leiten das Forschungsteam: Monika Dommann (links) und Marietta Meier, Professorinnen am Historischen Seminar der Universität Zürich. | © zVg
Sie leiten das Forschungsteam: Monika Dommann (links) und Marietta Meier, Professorinnen am Historischen Seminar der Universität Zürich. | © zVg
21.04.2022 – Aktuell

Auftakt zur Erforschung des sexuellen Missbrauchs

Die katholische Kirche öffnet ihre Archive für die erste Etappe einer unabhängigen historischen Untersuchung

In der Schweiz lässt die katholische Kirche untersuchen, wie es in den letzten 70 Jahren zu sexuellem Missbrauch gekommen ist. Bis Herbst 2023 werden Historikerinnen zeigen, welche Quellen dazu vorhanden sind und wie weiter geforscht werden kann.

«Das Thema wird uns nicht mehr loslassen.» Das sagte Joseph Maria Bonnemain, Bischof von Chur, an der Medienkonferenz vom 4. April in Lausanne. In der Schweizer Kirche ist die Missbrauchsthematik bisher erst in wenigen Teilbereichen untersucht – etwa für das Kloster Einsiedeln oder für den Jahrzehnte lang anhaltenden Fall Allaz bei den Kapuzinern.

Was jetzt in Angriff genommen wird, ist nicht eine strafrechtliche, sondern eine geschichtliche Untersuchung des Unrechts seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Darauf haben sich die drei wichtigsten Institutionen der katholischen Kirche in der Schweiz geeinigt: die Bischofskonferenz (SBK), die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ, Zusammenschluss der kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaften) und die Konferenz der Orden und religiösen Gemeinschaften (Kovos).

Ganze Schweiz seit 1950 im Blick

Gemeinsam haben sie ein Pilotprojekt für eine landesweite wissenschaftliche Erforschung in Auftrag gegeben. In einem Vertrag geben sie dem Historischen Seminar der Uni Zürich freie Hand: Die drei Institutionen verpflichten sich, keinen Einfluss zu nehmen auf Durchführung und Ergebnis des Projekts. Das sei unabdingbar, «da die römisch-katholische Kirche mit ihren historisch gewachsenen Machtstrukturen die Täterschaft darstellt», sagte Bischof Bonnemain. Die Kosten von 377’000 Franken tragen die Auftraggeberinnen gemeinsam.

Das Projekt nimmt die katholische Kirche in der ganzen Schweiz seit etwa 1950 in den Blick. SBK, RKZ und Kovos sichern den Historikerinnen freien Zugang zu ihren Akten und Archiven zu. Ob sich dann alle Bistümer, Pfarreien, Landeskirchen und Kirchgemeinden, alle Klöster und Gemeinschaften an die Abmachung ihrer Dachverbände gebunden fühlen, wird sich zeigen.

Unabhängige Forschungsarbeit

Projektleiterinnen sind die Geschichtsprofessorinnen Monika Dommann und Marietta Meier von der Uni Zürich. Laut Medienberichten bezeichnen sich beide als katholisch aufgewachsen, aber nicht praktizierend. Zum Forschungsteam gehören weitere vier Historiker/innen, davon je eine aus der italienischen und der französischen Schweiz: Vanessa Bignasca, MA, Comano; Lucas Federer, Dr. phil., Zürich; Magda Kaspar, MA, Muri b. Bern; Lorraine Odier, Dr. sc. soc., Lausanne.

Zur Begleitung des Pilotprojekts hat die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG) einen wissenschaftlichen Beirat ernannt mit je drei Hochschullehrerinnen und -lehrern aus den Gebieten der Geschichte, Kirchengeschichte, öffentliches Recht und Kirchenrecht. Präsident des Beirats ist Sandro Guzzi-Heeb, Privatdozent und Maître d’enseignement et de recherche für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Lausanne. Mitglieder des Beirats sind Felix Hafner, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Basel; Astrid Kaptijn, Professorin für kanonisches Recht an der Universität Freiburg/Schweiz und Mitglied der «Commission indépendante sur les abus sexuels dans l’Église» (CIASE) in Frankreich; Sonja Matter, Privatdozentin, Senior Researcher und Lecturer an der Universität Bern; Anne-Françoise Praz, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg/Schweiz; und Markus Ries, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Luzern. Auch zu den Aufgaben der SGG und des Beirats haben SBK, RKZ und Kovos einen Vertrag mit der SGG geschlossen, und sie tragen die Kosten.

Bericht bis Herbst 2023 veröffentlichen

Die Arbeit am Pilotprojekt beginnt am 1. Mai, die Historikerinnen haben ein Jahr Zeit. Sie wollen auch Opferorganisationen sowie Zeitzeugen und Zeitzeuginnen befragen. Bis am 1. August 2023 muss die Projektleitung den Kirchen einen Bericht übergeben. Dieser wird von der SGG übersetzt und im Herbst 2023 auf Deutsch, Französisch und Italienisch veröffentlicht.

Eine umfassende Darstellung des Missbrauchs in der Schweizer Kirche ist in diesem Zeitraum nicht möglich. Das Pilotprojekt soll vor allem zeigen, welche Quellen vorhanden sind. Und es wird vorschlagen, mit welchen Fragestellungen und Methoden das Thema anschliessend erforscht werden soll. Die Arbeit bis 2023 ist also eine erste Etappe. Dann wird sich zeigen, was die Kirche wirklich erforscht und dargestellt haben will.

Ziel: Dem Missbrauch Einhalt gebieten

An der Medienkonferenz in Lausanne erklärten die Verantwortlichen der drei Institutionen ihren Willen, aus dem begangenen Unrecht zu lernen. Abt Peter von Sury vom Benediktinerkloster Mariastein hielt fest: «Es geht darum, die Fakten zu erheben und die systemischen Ursachen und tieferen Zusammenhänge zu analysieren und die Massnahmen und Reformen umzusetzen und alles zu tun, damit solches Unheil verhindert wird.» RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger sagte: «Unerlässlich sind strukturelle Reformen, damit Macht in der Kirche geteilt und ihrem Missbrauch Einhalt geboten wird.» Und Bischof Joseph Maria Bonnemain forderte, die Kirche müsse bereit sein, «bestehende Strukturen, welche Verbrechen und deren Vertuschung ermöglicht oder begünstigt haben, zu verändern».

Christian von Arx

 

Mediendossier zur Medienkonferenz vom 4. April 2022

Vertrag von SBK, RKZ und Kovos mit dem Historischen Seminar der Universität Zürich

Vertrag von SBK, RKZ und Kovos mit der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte SGG

 

Website von SBK, RKZ und Kovos zum Projekt

Website der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte SGG zum Projekt

Website des Historischen Seminars der Universität Zürich zum Projekt

Auftraggende der historischen Forschung sind die Bischofskonferenz (SBK), die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) und die Konferenz der Orden und religiösen Gemeinschaften (Kovos), auf dem Bild vertreten durch (von links) Bischof Joseph Bonnemain, Präsidentin Renata Asal-Steger und Abt Peter von Sury (Medienkonferenz vom 4. April 2022 zum Start des Pilotprojekts, zusammen mit Betroffenen, den Forschungsleiterinnen und wissenschaftlichen Begleitern). | © zVg