Hugo Fasel an der Eröffnung einer mit der Hilfe von Caritas Schweiz erdbebensicher wiederaufgebauten Schule in Palchok, Nepal (22. Februar 2017). | © Ramesh Maskey/Caritas Schweiz
Hugo Fasel an der Eröffnung einer mit der Hilfe von Caritas Schweiz erdbebensicher wiederaufgebauten Schule in Palchok, Nepal (22. Februar 2017). | © Ramesh Maskey/Caritas Schweiz
24.12.2020 – Aktuell

«Politik ist von den sozialen Realitäten entfernt»

Hugo Fasel geht nach zwölf Jahren als Direktor der Caritas Schweiz in Pension

Zwölf Jahre hat der Freiburger Hugo Fasel Caritas Schweiz als Direktor geprägt. Im Gespräch zu seinem Abschied auf Ende des Jahres steht der tiefgreifende soziale Wandel im Zentrum, den die Schweiz und die ganze Welt derzeit erleben.

Viele Menschen – darunter auch Politiker – sind der Ansicht, dass es in der reichen Schweiz keine Armut gibt. Wie reagieren Sie, wenn Sie das hören?
Hugo Fasel: Armut in der Schweiz ist eine Realität. Sie wird gemessen durch das Bundesamt für Statistik. Wer sich nahe bei den Menschen bewegt, kann diese Realität nicht ausblenden. Armut wird sozialpolitisch die zentrale Herausforderung der Schweiz in den nächsten Jahren sein. Rasche Veränderungen werden immer mehr Menschen an den Rand der Gesellschaft drängen.

In Genf standen im Frühjahr Tausende von Menschen stundenlang Schlange bei einer Essensabgabe. Die Bilder haben schockiert. Wie tiefgreifend ist die soziale Veränderung, die die Coronakrise ausgelöst hat?
Bilder, die so unmittelbar sichtbar machen, dass es Menschen am Geld für das Alltägliche fehlt, beschreiben nur einen kleinen Teil der Auswirkungen von Corona. Was wir jetzt erleben, geht tiefer: Familien haben ihren Zuverdienst mit einem Zweitjob am Abend oder am Wochenende verloren, mit dem sie sich zuvor gerade noch über Wasser halten konnten. Personen, die Kurzarbeitsentschädigung erhalten – was bedeutet, dass sie 20 Prozent ihres Einkommens verlieren –, versuchen sich gegenwärtig noch mit mühsam Erspartem durchzubringen. Dies ist ein Prozess, der die Situation über die nächsten zwei Jahre verschärfen wird: Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen, mehr Menschen werden sich verschulden und bei der Sozialhilfe landen.

In der Sendung «Matinale» auf Radio Suisse Romande sagten Sie kürzlich: Die Politik hat in der Coronakrise die Armutsbetroffenen schlicht und einfach vergessen. Was fehlt im Hilfspaket, das der Bundesrat gesprochen hat?
Wir haben die Bundespolitik bereits im April dazu aufgerufen, Familien und Einzelpersonen, deren Einkommen einbricht, mit Direktzahlungen zu unterstützen. Dafür haben wir eine Milliarde Franken gefordert, was angesichts eines Pakets für Corona-Massnahmen von über 30 Milliarden nicht sehr viel ist. Das Erschreckende ist, dass die Armutsbetroffenen und vor allem die Menschen an der Armutsgrenze einmal mehr vergessen gehen. Das Problem wird erst dann erkannt, wenn sie bei der Sozialhilfe sind, sie stigmatisiert werden und ihr Erspartes vollkommen aufgezehrt ist. Das zeigt, wie weit ein grosser Teil der Politik von den sozialen Realitäten der Schweiz entfernt ist.

In vielen Ländern bedeutet Armut auch Hunger. Zurzeit nimmt der Hunger in der Welt wieder zu. Was sind für Sie prägende Begegnungen, die Sie auf Ihren Reisen in arme Länder gemacht haben?
Ich bin immer etwas zurückhaltend, von solchen Begegnungen zu erzählen, weil sie als romantischer Kitsch abgetan werden könnten. Dennoch, wenn mich ein 50-jähriger Mann aus Syrien in einem Zelt im Libanon umarmt und nur eines sagt: «Vergesst uns nicht!» – das geht unter die Haut. Wenn eine Frau im Tschad erzählt, dass sie das Geld nicht aufbringt, um ihr Kind zum Arzt zu bringen, das an einer einfach behandelbaren Krankheit leidet, dann macht mich das betroffen, traurig und mobilisiert all mein Engagement. Wenn ich sehe und erlebe, dass Frauen weltweit nicht mitreden können, weil sie Frauen sind, und keine Schule besuchen können: «ça me révolte» – dann begehre ich auf.

Seit Ihrem Antritt als Caritas-Direktor haben Sie ein Thema immer wieder stark betont: den Klimawandel. Was kann die Caritas zu diesem Thema beitragen?
Die Klimafrage ist grundsätzlich betrachtet nicht kompliziert. Sie ist eine Frage der Gerechtigkeit. Weil wir über unseren CO2-Ausstoss das Klima erwärmen, stürzen wir Menschen in den Ländern des Südens in Armut und Hunger. Es geht um Kausalhaftung. Wer CO2 produziert, muss dafür bezahlen. Den CO2-Ausstoss zu reduzieren und eine klimaneutrale Wirtschaft und Verhaltensweise zu schaffen, ist absolut machbar. Es ist einzig eine Frage des Wollens und des Willens. Diesbezüglich hinkt die Politik der Gesellschaft hinterher. Die Klimajugend und die Bewegung, die daraus entstanden ist, sind ganz einfach grossartig.

Sie haben klare politische Stellungnahmen nie gescheut. Welche Reaktionen bekamen Sie darauf von Spenderinnen und Spendern?
Meine grosse Freude der letzten zwölf Jahre besteht darin, dass Spenderinnen und Spender die Zusammengehörigkeit von Projekt und Politik sehr wohl verstehen. Verärgerte Briefe zu unserem politischen Engagement lassen sich an einer Hand abzählen. Die Zahl der Briefe, die mehr Politik, Aufklärung und Analyse verlangen, füllen – bildlich gesprochen – Schränke.

Was geben Sie Ihrem Nachfolger Peter Marbet mit auf den Weg?
Ich kann meinem Nachfolger mit Gewissheit sagen, dass ihn eine der spannendsten Aufgaben dieser Zeit erwartet: vielfältig, mitten in der Brandung der Zeit, mit Resonanz, faszinierend.

Interview: Stefan Gribi, Leiter Abteilung Kommunikation, Caritas Schweiz

 

Hugo Fasel ist bis am 31. Dezember Direktor der Caritas Schweiz und geht dann in Pension.
Am 1. Januar 2021 übernimmt sein Nachfolger ­Peter Marbet die Direktion von Caritas Schweiz.