19.05.2018 – Editorial

Pfingstwunder

Am Pfingstereignis, wie es die Apostelgeschichte von der christlichen Urgemeinde in Jerusalem erzählt, hat mich immer das Sprachwunder fasziniert. Am Pfingstfest begannen die Apostel plötzlich in anderen Sprachen zu sprechen, «wie es der Geist ihnen eingab», und in einer wegen des Sturmwinds zusammengeströmten Menge hörte ein jeder sie in seiner Muttersprache reden. Die verdutzten Zuhörer waren «fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel». Ihre Herkunftsländer werden namentlich genannt, sie umfassen einen weiträumigen Umkreis um Palästina: Mit heutigen Ländernamen würden wir von Iran, Irak, der Türkei, Nordafrika, Griechenland und Italien sprechen.

Fremde Sprachen reden ohne Wörterbüffeln? Die Apostelversammlung als Sprachlabor oder als Tagung von Dolmetschern? Ein Wunder, das zu glauben schon damals den Leuten schwerfiel: Wie die Bibel berichtet, musste Petrus in Jerusalem Spöttern entgegentreten, die die ganze Sache dem Wein zuschrieben. Auf jeden Fall lässt sich dem Pfingstbericht entnehmen, dass die christliche Urgemeinde von jenem Zeitpunkt an Leute aus der ganzen damals bekannten Welt als Adressaten ihrer Verkündigung ansprach. Im Kreis um die Apostel kam die Vorstellung auf, dass sich die Heilsbotschaft an alle Menschen richte, gleich welcher Sprache und welcher Volkszugehörigkeit. Das Pfingstereignis war der Auftakt zu einer Mission unter allen Völkern – davon handelt die Apostelgeschichte.

Der Bericht vom Pfingstwunder bringt wohl zum Ausdruck, dass die christliche Botschaft über alle Sprachgrenzen hinweg verstanden werden kann. Sie überwindet die Sprachverwirrung von Babel: In den ersten Zeiten der Schöpfung waren die Menschenkinder noch ein Volk mit einer allen gemeinsamen Sprache, wie es
im Buch Genesis heisst; doch seit dem Turmbau zu Babel verstand keiner mehr die Sprache des andern. An Pfingsten gelang es den Aposteln, zu jedem Zuhörer in seiner Sprache zu reden.

In diesen Tagen um den 70. Jahrestag der Gründung des modernen Staates Israel fällt besonders auf, dass der Pfingstbericht des Neuen Testaments Juden und Araber in einem Atemzug nennt. Auch sie, deren Nachfahren in Palästina einander seit mehr als hundert Jahren im Streit um das Land gegenüberstehen, hörten damals die Apostel in ihrer eigenen Sprache reden und verstanden sie. Man wünscht den Menschen im heutigen Jerusalem ein solches Pfingstwunder. Wir wissen ja selbst, wie schwierig es oft ist, von unseren Nächsten links und rechts, die die gleiche Sprache reden wie wir, verstanden zu werden.

Christian von Arx