27.07.2023 – Editorial

Ohne Heimat

Es ist beklemmend, was uns zwei Dokumente aus dem Oberbaselbiet vom Jahr 1838 schildern. Der Landjäger vom Posten Oltingen musste Fremde verscheuchen, die sich um die Dörfer herumtrieben. Es waren Heimatlose, der Landjäger nennt sie «Lumpenpack» und «Bettelgesindel». Als er nachts eine Gruppe von ihnen an einem Feuer im Wald entdeckte, schoss er auf sie, ohne zu wissen, ob er getroffen hatte oder nicht. Wenn sie über die Kantonsgrenze abhauten, hatte er seine Pflicht getan. Den Vorfall meldete er in einem Rapport, was zeigt, dass er sicher war, in Übereinstimmung mit seinen Vorgesetzten zu handeln.

Drei Monate später wird der Dorfarzt von Rothenfluh zu einem todkranken 24-Jährigen gerufen, der im Wald auf einem Lager aus Ästen dahinsiecht. Die Hilfe kommt zu spät, der junge Mann, Vater eines fünfwöchigen Babys, stirbt am folgenden Tag. Der Arzt erfährt, dass der Kranke in der letzten Zeit mehrmals von Behörden aufgegriffen und über die nächste Kantons- oder Staatsgrenze transportiert worden sei, ohne dass ihm ärztliche Hilfe oder auch nur zu essen gegeben worden wäre. So ging es den Heimatlosen: Wo immer sie etwas zum Leben suchten, wurden sie verjagt.

Machen wir es besser als unsere Vorfahren? Gibt es heute keine Heimatlosen mehr? Das Leid an den Kantonsgrenzen von 1838 erinnert doch schwer an die nicht abreissenden Berichte von den Aussengrenzen des Schengen-Raums, zu dem auch die Schweiz gehört. Und an die Frage aus dem Evangelium: Herr, wann haben wir dich hungrig oder fremd oder krank gesehen und haben dir nicht geholfen?

Christian von Arx