Erinnerungszentrum Lager Westerbork: Diese Schienen führten während des Zweiten Weltkriegs zu Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau und Sobibor.  | © wikimedia/Blacknight
Erinnerungszentrum Lager Westerbork: Diese Schienen führten während des Zweiten Weltkriegs zu Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau und Sobibor. | © wikimedia/Blacknight
16.11.2023 – Impuls

 

Johannes 15, 9-13

Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine grössere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.

Einheitsübersetzung 2016

 

Nie wieder!

Nie wieder! Diese beiden Worte kommen mir in den letzten Wochen immer wieder in den Sinn. Und während ich diese Zeilen schreibe, höre ich in den Nachrichten, dass in Basel ein Rabbiner bespuckt wurde und jüdische Kinder sich nicht mehr sicher fühlen. Sie sollen weder Kippa noch Schaufäden mehr offen tragen.

Das schnürt mir die Kehle zu. Sie sollen sicher sein und sich sicher fühlen, die Menschen jüdischen Glaubens, die hier in Europa ausgerottet werden sollten. Sie sollen hier in Europa, in Israel, egal wo sie leben, eine sichere Heimat haben. Sie sollen nie wieder bedroht, verfolgt, verschleppt, ermordet werden – wie es am 7. Oktober tausendfach geschehen ist und im vergangenen Jahrhundert millionenfach. Wie es Etty Hillesum geschehen ist. Die junge Jüdin lebte unter der nationalsozialistischen Besetzung in den Niederlanden und reflektierte das Geschehen und sich selbst in Tagebüchern und Briefen.

Eine letzte Postkarte wirft sie aus dem Zug, der sie, ihre Eltern und ihren Bruder und weitere 983 Menschen nach Auschwitz bringt. Etty Hillesum schreibt auf der Karte, die gefunden und verschickt wurde: «Christien, ich schlage die Bibel an irgendeiner Stelle auf und finde das: Der Herr ist meine hohe Burg. Ich sitze mitten in einem vollen Güterwaggon auf meinem Rucksack. (…) Wir haben dieses Lager singend verlassen, Vater und Mutter sehr tapfer und ruhig, Mischa ebenso.»

Etty Hillesum weiss, was auf sie und ihre Familie zukommt. Sie geht sehenden Auges in die Katastrophe. Sie hat mehrfach die Gelegenheit, unterzutauchen, sich der Deportation zu entziehen. Sie tut es nicht. Sie will bei ihrem Volk bleiben, solidarisch sein mit denen, die nicht das Privileg haben, zu entkommen. Sie nennt sich selbst «das denkende Herz der Baracke». Mit Herz, Leib und Seele denkt sie – und liebt. Gottesliebe und Menschenliebe sind für sie eins. Sie fühlt sich unendlich geliebt von Gott: «… ob ich nun hier an dem mir so lieben und vertrauten Schreibtisch sitze oder ob ich nächsten Monat … in einem Arbeitslager unter SS-Bewachung stehe, ich werde mich überall und immer, glaube ich, in Gottes Armen fühlen.» Ihre Tagebücher sind ein einziges Gebet. «Man sollte immer beten, Tag und Nacht, für all die Tausenden. Man sollte keine Minute ohne Gebet sein wollen.»

Und so ist sie in engem, mystischen Kontakt mit Gott – ihr ganzes Leben ist ein Zwiegespräch mit Gott: «Sonntagmorgengebet. … Ich verspreche dir etwas, Gott, nur eine Kleinigkeit: Ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott.»

Wir müssen Gott helfen. Wir müssen Gottes Willen tun, hier auf der Erde, damit es menschlich wird in der Welt. Auch in diesen Zeiten:

«Mein Gott, diese Zeiten sind zu hart für so zerbrechliche Menschen wie mich. Ich weiss, dass danach wieder andere, humanere Zeiten kommen werden. Ich möchte so gern am Leben bleiben, um all die Menschlichkeit, die ich trotz allem, was ich täglich mitmache, in mir bewahre, in diese neue Zeiten hinüber zu retten. Es ist die einzige Möglichkeit, die neue Zeit vorzubereiten, indem wir sie schon jetzt in uns vorbereiten.»

Sie hofft auf neue Zeiten. Auf andere Zeiten. Die kommen sollen. Später. Diese Zeiten sind jetzt. Und wir sind mittendrin.

Zerbrechlich fühlt sie sich. Und zerbrochen wird sie am Ende, am 30. November 1943 im Konzentrationslager Auschwitz. Doch gebrochen wird sie nicht. Ihr Tagebuch endet mit dem Satz: «Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.»

Nie wieder! Halten wir die Erinnerung wach an Menschen wie Etty Hillesum. Und wirken wir daran mit, dass nie wieder Menschen auf diese Weise zerbrochen werden!

Dorothee Becker, Theologin und Seelsorgerin; Gemeindeleiterin der Pfarrei St. Franziskus, Riehen-Bettingen