Aus dem Weinstock sprossen die Reben, und mit der Pflege des Winzers bringen sie reiche Frucht. | © Christian von Arx
Aus dem Weinstock sprossen die Reben, und mit der Pflege des Winzers bringen sie reiche Frucht. | © Christian von Arx
18.05.2023 – Impuls

Johannesevangelium 15,1–5

Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Winzer. Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab und jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringt. (…) Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so auch ihr, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.

Einheitsübersetzung 2016

 

Mit unserem Rebstock verbunden bleiben

Ich will nicht daran glauben, dass es in der katholischen Kirche nur die kanonischen Heiligen gibt, die wir im Heiligenkalender erfasst haben und derer wir an ihren Feiertagen gedenken. Ich will vielmehr daran glauben, dass es in der Christenheit noch viele heilige Frauen und Männer gibt, die wir nicht kennen und von denen wir nicht einmal wissen. Ich glaube, dass es viele «anonyme Heilige» gibt, die der Kirche namentlich nicht bekannt, jedoch durch ihr Leben und ihren Glauben ganz nah bei Gott sind.

Der Konzilstheologe Karl Rahner prägte den Begriff des «anonymen Christentums», dessen Theologie teils in die Konzilstexte des 2. Vatikanums Eingang gefunden hat. Dabei ging es ihm um das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen. Die Frage, ob es auch ausserhalb des Christentums Gottes Heil gibt, beantwortete er damit positiv.

Übertragen wir dieses Verständnis auf die «anonymen Heiligen», dann müssten wir zum Schluss kommen, dass es ausserhalb der Kirche und ihres Heiligsprechungsprozesses Menschen gibt, die ein Leben geführt haben, das wir als heilig bezeichnen und verehren würden.

Mein Lehrer und Professor der Theologie, Heinrich Pompey, versuchte uns stets die Sensibilität für die Bedeutung von Worten zu vermitteln. Auf seine etymologische Akribie entfuhr seiner Zuhörerschaft so manch ein «Aha!». So ging er einmal der Frage nach, woher das Wort «heilig» stammt. «Heilig» trage den Wortstamm «heil» in sich, was nichts anderes bedeute als «nicht entzweit», sondern «ganz» oder «intakt», «heil» eben. Heilig bedeutet, danach zu streben, «ganz zu sein» und «nicht entzweit».

Was ist nun eine Heilige oder ein Heiliger? Sollten wir nicht alle danach streben, «heilig» zu bleiben, oder wenn wir meinen, es noch nicht zu sein, so mindestens heilig werden zu wollen?

Erst seit ich eine Winzertochter geheiratet habe, verstehe ich das Gleichnis vom Weinstock. Durch die Mitarbeit im Rebberg habe ich die Bezeichnungen gelernt, mit denen das Gleichnis eine Weisheit ins Bild rückt, die mit unserem Thema des Heiligwerdens zu tun hat. Da gibt es den Weinstock, tief verwurzelt im Erdreich, und aus ihm heraus sprossen die Reben. Im Winter schneidet der Winzer die Reben des Vorjahres ab und lässt nur eine stehen, die er an die Drähte anbindet. Diese Rebe blüht im Frühling und setzt Trauben an. Mehrmals müssen die zahlreichen neuen Triebe zurückgeschnitten werden.

Heilig zu leben und heilig zu werden bedeutet also das stete Bemühen, mit Jesus in Kontakt zu sein, aus ihm, dem Rebstock, unsere Kraft zu beziehen. Nicht von ihm «entzweit» zu sein, sondern mit ihm «ganz» und verbunden zu bleiben. Der Winzer höchstpersönlich bemüht sich dann, dass die Rebe Frucht bringen wird.

Mathias Jäggi, Theologe und Sozialarbeiter, arbeitet als Berufsschullehrer