Roswitha Holler-Seebass probt mit Baltasar und Kaspar, Melchior fehlt heute. | © Erik Brühlmann
Roswitha Holler-Seebass probt mit Baltasar und Kaspar, Melchior fehlt heute. | © Erik Brühlmann
14.12.2023 – Aktuell

Krippenspiel «Ab uf Ägypte»

Das Nachstellen der Weihnachtsgeschichte nach Franz von Assisi feiert 800-Jahre-Jubiläum

Landauf, landab werden jetzt wieder Krippenspiele erarbeitet. Die Weihnachtsgeschichte mit Kindern theatralisch umzusetzen, hat eine sehr lange Tradition – und begeistert auch im Zeitalter von Netflix und Smartphone. Ein Augenschein bei den Proben in Pratteln.

Was für ein Lärm! Der Pfarreisaal unterhalb der Kirche St. Anton in Pratteln wackelt förmlich, während rund 30 Kinder zwischen fünf und elf Jahren in ihm herumtoben. Sie spielen Fangis oder pumpen auf andere Weise die viele überschüssige Energie in den Boden, über die Kinder auf so beneidenswerte Art verfügen. Aber natürlich sind die Buben und Mädchen nicht gekommen, um über Stühle zu klettern oder von Tischen zu hüpfen. Es ist Mittwochabend um 18 Uhr, und zu diesem Zeitpunkt finden hier zwischen Mitte Oktober und Mitte Dezember jeweils Proben zum ökumenischen Krippenspiel der katholischen und reformierten Kirchgemeinden von Pratteln-Augst statt. Jetzt ist gerade Pause, der Sirup ist verteilt und getrunken, und bis zur nächsten Probeneinheit bleiben den Kindern noch ein paar Minuten. Gut ausgetobt singt es sich dann gleich viel konzentrierter!

Vielfältige Kinderschar

Dann ruft Assunta D’Angelo, die Jugendarbeiterin der katholischen Kirchgemeinde, die Kinder zurück auf die Stühle, die im Halbkreis um ihr Klavier platziert sind. Und schon geht’s los mit einem eingängigen Song von Andrew Bond, dem berühmten Komponisten von Kinderliedern («Zimetschtern han i gern»); sein Werk bildet jeweils die musikalische Basis des jährlichen Prattler Krippenspiels. Assunta D’Angelo leitet seit 13 Jahren den ökumenischen Kinderchor «Rägeboge» der Gemeinde, seit zwölf Jahren verantwortet sie den Gesang beim Krippenspiel. Mit lauter Stimme und unbeirrt von ständigen Störungen führt sie durch die Lieder. Die Kinderschar ist so vielfältig wie unsere heutige Gesellschaft; längst nicht alle scheinen zu verstehen, was sie singen, und nur die Grösseren können die Texte auf dem Notenblatt lesen. Doch alle sind mit Interesse dabei. Kein Wunder: Sie sind alle freiwillig hier, weil ihnen das Erarbeiten eines Krippenspiels Spass macht. Assunta D’Angelo sagt, die meisten seien Kinder von Leuten, die eine mehr oder weniger enge Beziehung zu den Kirchgemeinden haben. «Aber wir machen auch Werbung in der Schule – es waren sogar schon Kinder aus muslimischen Familien dabei.»

Das Krippenspiel feiert Geburtstag

Der Überlieferung zufolge feiert die Theaterform dieses Jahr ein gewichtiges Jubiläum: Es soll genau 800 Jahre alt sein. 1223 stellte Franz von Assisi im Wald von Greccio, 90 Kilometer nördlich von Rom, die Weihnachtsgeschichte mit lebenden Tieren und Menschen dar. Dass der heilige Ordensgründer die Messe in Anwesenheit von Tieren und in einer Stallhöhle über einer echten Krippe feierte, war typisch für ihn. Franziskus setzte stark auf Anschaulichkeit und Theatralik, und er verstand sich hervorragend darauf, Leute für religiöse Inhalte zu begeistern. Tatsächlich werden sich wohl die meisten Kinder, die einmal an einem Krippenspiel mitwirkten, ein Leben lang an diese Erfahrung erinnern.

Theater beruht auf Religion

Allerdings: Sollte Franziskus im Wald von Greccio tatsächlich den Grundstein zur heutigen Form des Krippenspiels gelegt haben, tat er das nicht im luftleeren Raum. Religiöse Inhalte den Gläubigen in theatralischer Form näherzubringen, hat eine sehr lange Tradition, und das ist auch keine Überraschung – denn Theater hat eine starke suggestive Kraft und macht Geschichten für alle auf eingängige Weise erlebbar. Man kann sogar sagen: Die Wurzeln des Theaters liegen im religiösen Spiel. Den ältesten Hinweis auf ein Theaterstück liefert eine Steinstele aus der Kultur des Mittleren Reiches der Ägypter vor rund 4000 Jahren. Sie berichtet von einem Spiel zu Ehren des Gottes Osiris, bei dem an dessen Leiden, Tod und Auferstehung erinnert wurde. Das gemahnt bereits stark an die Passionsspiele des Mittelalters. Selbst die berühmten griechischen Dramen entstanden alle zu Ehren des Gottes Dionysos, auch wenn man ihnen das kaum ansieht.

Von den Franziskanern in die Welt getragen

Die Theaterwissenschaft geht davon aus, dass die Weihnachtsgeschichte schon wenige Jahrhunderte nach Christus in Krippenspielen dargestellt wurde. Der älteste lateinische Text für ein Weihnachtsspiel, der uns erhalten blieb, ist das «Freisinger Magierspiel»; um 1080 wurde dieser Text im Chor des Freisinger Doms uraufgeführt. Er behandelt die Ereignisse von der Geburt Christi bis zur Flucht nach Ägypten. Ob Franziskus der Erste war, der ein Krippenspiel im heutigen Sinn aufführte, ist also nicht gesichert, widerlegen lässt sich das aber auch nicht. Sicher jedoch ist, dass es die Franziskaner waren, die diese Darstellungsform popularisierten und in die Welt trugen. Auch in die Schweiz: Das erste nachgewiesene Krippenspiel wurde hierzulande im 13. Jahrhundert in der Fürstabtei St. Gallen aufgeführt.

Ein «Grippenspiel»

Wie viele Krippenspiele heutzutage jedes Jahr in der Schweiz gezeigt werden, weiss niemand. Es sind Hunderte. Das berühmteste von allen ist fraglos die «Zäller Wiehnacht» des genialen Theaterkomponisten Paul Burkhardt, vom dem auch der Evergreen «O mein Papa» stammt. Die «Zäller Wiehnacht» wurde 1960 erstmals aufgeführt, in der Dorfkirche der zürcherischen Gemeinde Zell. Mittlerweile ist sie in 20 Sprachen übersetzt worden, in den USA kennt man sie zum Beispiel als «Swiss Nativity». Warum aber wird die Geschichte immer wieder neu interpretiert und neu geschrieben, wo es doch bereits so viele Umsetzungen gibt? Die Frage geht an Roswitha Holler-Seebass, Autorin des Krippenspiels in Pratteln. «Immer dasselbe Stück zu spielen, wäre für die Kinder doch langweilig», sagt sie – denn viele Kinder sind während mehrerer Jahre dabei. Dass das diesjährige Stück «Ab uf Ägypte» voller Tagesaktualität steckt, ist ein Zufall. Es geht um Flucht und die Schwierigkeit, Fremde irgendwo unterzubringen. «Als ich das Stück schrieb, wusste ich natürlich nicht, wie sich die politische Situation im Nahen Osten entwickeln wird», sagt Roswitha Holler-Seebass. Dass sie aber gern Themen aufnimmt, die gerade in der Luft liegen, bewies sie während der Pandemie: Damals hiess das Stück «Weihnachten fällt aus», und es handelte sich nicht um ein Krippen-, sondern um ein «Grippenspiel».

Das Spiel mit Möglichkeiten

Roswitha Holler-Seebass ist seit acht Jahren für den Text und die Regie des Prattler Krippenspiels verantwortlich. Während Assunta D’Angelo mit dem Gros des Ensembles die Lieder einstudiert, zieht die Regisseurin einzelne Darstellerinnen und Darsteller ab und geht mit ihnen auf der Bühne des Pfarreisaals die Rollen durch. Das funktioniert im klassischen Stil: Die Regisseurin zeigt, was sie erwartet, die Kinder wiederholen es. Die meisten von ihnen spielen ganz unbefangen und mit viel Verve; Hemmungen bezüglich Theaterauftritten entwickeln sich oft erst in der Pubertät. Die meisten Kinder schlüpfen gern in andere Rollen und mögen es, sich zu verkleiden; das Spiel mit fremden Identitäten hilft, das eigene Ichbewusstsein zu entwickeln und Möglichkeiten auszuloten. Wer welche Rolle spielt, legt die Leitung des Krippenspiels übrigens gemeinsam mit den Kindern fest. Natürlich ist es eine Herausforderung, für alle eine passende Rolle zu finden, aber die Zahl von Engeln und Hirten lässt sich ja immer etwas anpassen.

Keine Panik!

Zugegeben: An diesem Abend im November klingt der kleine Kinderchor zuweilen noch ziemlich schräg, vor allem bei den Strophen, manche Kinder haben offensichtlich keine Ahnung, wie die Melodie klingen soll. Und der Aufführungstermin rückt schnell näher: Am Samstag, 16. Dezember, ist um 17 Uhr Premiere in der katholischen Kirche St. Anton, tags darauf folgt um 10 Uhr die Aufführung im reformierten Kirchgemeindehaus. Assunta D’Angelo ist aber viel zu erfahren, um sich aus der Ruhe bringen zu lassen. «Noch klingt es, als könnten sie es nicht – aber in drei Wochen werden sie es können.» Denn es sind Kinder – und Kinder lernen schnell.

Marius Leutenegger