Bildlegende | © Chabe01/wikimedia commons
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13.07.2023 – Impuls

Matthäus 11,28-30

Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.

Einheitsübersetzung 2016

 

In der Stille spürst du deinen Seelengrund

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat man Leute, die in Zügen und auf Strassen Kopfhörer trugen, belächelt. Sie wollen sich quasi «zumauern», in ihrer eigenen Welt leben – so hat man über sie gedacht. Heute trage auch ich manchmal Kopfhörer, verschliesse meine Ohren mit Stöpseln, weil es laut ist, sehr laut. Was allen so zugemutet wird an Telefongesprächen, sehr lauten Unterhaltungen, Autolärm, Musikberieselung und Werbung! Die auf uns einprasselnden Nachrichten lassen uns von einer Aufregtheit zur nächsten reiten. Wir sind alle sehr beschäftigt. Die Probleme wachsen uns über den Kopf.

Kürzlich reiste ich mit einer befreundeten engagierten Familie und einigen Menschen mit Beeinträchtigung wieder einmal nach Taizé. Alle verstehen es, alle scheinen damit einverstanden zu sein, dass in der Gemeinschaft mit den Brüdern von Taizé während drei Gebeten am Tag Stille möglich wird. Das schafft einen Raum, in dem während Minuten Tausende von jungen und älteren Menschen in der Stille verbleiben. Manchmal hört man nur einen Vogel singen, oder man spürt einen Hauch Kühlung durch die offene Kirchentür. Alle sind da, mit ihren Fragen, Zweifeln, Problemen und Hoffnungen, wohl auch Verzweiflung. Jeder und jede hat Platz auf dem Boden, auf Campingstühlen und Treppenstufen. Die äussere Stille, die Berufung der Brüdergemeinschaft zu Einfachheit, Offenheit und Gastfreundschaft, all das lässt einen die eigene Innerlichkeit, den «Seelengrund» spüren. In solchen Momenten ist der Grund des eigenen Seins zu spüren. Alle dürfen da sein, jeder und jede hat Platz, man oder frau wird nicht in Frage gestellt. Keine Kritik, kein grimmiger Blick, keine abwertende Bemerkung …

In dieser Stille lässt sich atmen. Ja, Freude kehrt ein, Freude trotz allem. Mir kommt die Bitte aus einem Gebet in den Sinn: «Barmherziger Gott, deine Liebe ist ohne Mass und ohne Ende. Jeden und jede von uns hast du gewollt und auf den Weg zum Leben gerufen. Unser Herz hast du angerührt, dass wir deine Stimme hören und verstehen, dich suchen und finden und in dir bleiben.»

Schon im 12. Jahrhundert, zu Lebzeiten der seligen Gräfin Stilla von Abenberg, hungerten die Menschen nach Stille, und sie haben das wohl schon immer getan. Der Vorname der adeligen Dame drückt ihre Berufung aus: Stilla, ein Wort aus dem Althochdeutschen, das Stille und Ruhe bedeutet. Wegen ihrer Zurückgezogenheit mit ihren Schwestern mag man sie wohl so genannt haben, auch wegen ihrer Hingabefähigkeit an die Bedürftigen. Bald nach ihrem Tod pilgerten die Menschen mit ihren Lasten zu ihr.

Und weiter in der Zeit zurück: Ein biblischer Text, der in diesen Tagen oft gelesen wird. «Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken… denn ich bin gütig und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seele» (Matthäus 11,28ff). Angesichts der Schlichtheit und Zugewandtheit Jesu vermögen wir uns zu öffnen und die selten gewordenen stillen Momente zu suchen und zu finden. Das wünsche ich von Herzen.

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, freiwillige Seelsorgerin in der Predigerkirche Zürich