07.10.2021 – Editorial

Immer diese Spaltungen

Bestimmt kennen Sie das Wappen der beiden Appenzell: Ein schwarzer, aufrecht stehender Bär auf weissem Grund. Die Fahne Ausserrhodens trägt zusätzlich die Buchstaben «VR» für «Vsser Rhoden». Die älteste bis heute erhaltene Darstellung des Bären als appenzellisches Wappentier findet sich auf einer Fahne der Rhode oder Talschaft Urnäsch, der sogenannten Urnäscher Rhodsfahne, die auf ungefähr 1350 datiert wird.

Diese Urnäscher Rhodsfahne hat eine witzige Geschichte. Sie zeigt neben dem Bären den Kirchenpatron von Urnäsch, den Apostel Philippus, mit Buch und Kreuz. Als sich die Leute von Urnäsch in der Reformation für den neuen Glauben entschieden, war ihnen die Darstellung eines Heiligen auf ihrer Fahne offenbar peinlich. Jedenfalls verschwand das Stück Stoff ab 1524 im kirchlichen Archiv und wurde fast 300 Jahre lang nicht mehr angerührt. Erst 1816/1820 wurde die Fahne abgebildet und beschrieben, wobei Philippus irrtümlich mit Antonius dem Einsiedler verwechselt wurde. Und noch 1840 schrieb der reformierte Pfarrer in seiner Dorfchronik verächtlich, die Heiligenfigur auf der Fahne sei «elend gemalet».

Umso verehrungswürdiger erschien die Fahne mit Philippus und dem Bären den katholischen Innerrhödlern. Im 19. Jahrhundert boten sie den Urnäschern eine ganze Alp dafür – allerdings vergeblich: Auch wenn die Reformierten die uralte Rhodsfahne für schlecht gemalt und unnütz hielten, gab ihnen doch der Kopf nicht zu, das alte Tuch den Katholiken in die Hände zu geben …

Erst in jüngster Zeit wuchs in Urnäsch die Wertschätzung für das textile Erbstück aus dem Mittelalter. 1949 liess die Gemeinde es restaurieren und hängte es im Gemeindesaal auf. Nach einer wissenschaftlichen Untersuchung 2007 wurde die bald 700-jährige Rhodsfahne dem Appenzeller Brauchtumsmuseum Urnäsch zur Verwahrung übergeben, das sie übrigens demnächst, ab November, als Highlight seiner Dauerausstellung neu präsentieren wird.

Die Urnäscher Rhodsfahne erzählt auf ihre Weise von der Glaubensspaltung, die Ende des 16. Jahrhunderts zur Teilung des Landes Appenzell in die zwei Halbkantone führte. Heute können wir uns kaum mehr vorstellen, dass damals das Zusammenleben von Katholiken und Reformierten im gleichen Kanton als unmöglich oder unzumutbar erachtet wurde. Das macht doch etwas nachdenklich in Bezug auf die viel beschworenen Spaltungen unserer Tage: Zwischen Jung und Alt, Stadt und Land, Befürwortern und Gegnern der behördlichen Corona-Schutzmassnahmen.

Christian von Arx