Das Herz als Kraftquelle in der Bedrängnis: Votivbild der ersten Italienerwallfahrt nach Mariastein im Jahr 1919, geprägt von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. | © Kloster Mariastein
Das Herz als Kraftquelle in der Bedrängnis: Votivbild der ersten Italienerwallfahrt nach Mariastein im Jahr 1919, geprägt von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. | © Kloster Mariastein
05.10.2023 – Impuls

Epheserbrief 3,16–19

Er gebe euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit, dass ihr in Bezug auf den inneren Menschen durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt. Durch den Glauben wohne Christus in euren Herzen, in der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet. So sollt ihr mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu erkennen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr erfüllt werden in die ganze Fülle Gottes hinein.

Einheitsübersetzung 2016

 

Im Herzschlag Ruhe finden

Wie können wir Zeit finden für das Tiefgründige, das Ruhige, das Bedächtige, das Ehrliche auf den Wellen der Turbulenzen des Klimas, der Kriege und auch der Kirche? Es braucht fast ein mentales Training, um nicht überschwemmt zu werden von Nachrichten und damit von Unbegreiflichem und auch Hässlichem in Kirche und Welt.

In der Informationsflut überraschte mich die Schriftstellerin und Kolumnistin Sibylle Berg. Nachdem sie beinahe alle akuten Probleme aufgezählt hat, von 9/11 über die Hasswellen gegenüber muslimischen und jüdischen Menschen, die Pandemie, die Klimakatastrophen bis zum Kobaltabbau für die neuen, wahnsinnig ökologischen batteriebetriebenen Autos, schreibt sie: Was «kann der Einzelne gegen die Übermacht der Hysterie tun? Ruhe bewahren! … Wozu dient die Panik, ausser den Menschen vom Denken abzuhalten? Von der Besonnenheit und Ruhe, die es braucht, um Lösungen zu finden, um sich zu finden, auszutauschen» («Tachles» Nr. 34, 2023, S. 4).

Es geht in ihrem Text nicht darum, irgendeine Gefahr zu verneinen, sondern bewusst Ruhe zu suchen und zu finden. Meine Frage: Aber für was? Unsere Wurzeln suchen, die Klarheit lieben, Frieden mit uns selbst schaffen und Kraftquellen erschliessen.

Die heutige Schriftstelle aus dem Epheserbrief bietet uns etwas an: «den inneren Menschen durch seinen (Gottes) Geist an Kraft und Stärke» wachsen lassen. Wachsen und Reifen ist nicht allein ein Privileg von jungen Menschen, sondern eine Lebensaufgabe. Weiter: durch das Vertrauen und durch «den Glauben wohne Christus in euren Herzen …». In ruhigen Momenten entdecken wir möglicherweise eine grössere Kraft, die die unsrige übersteigt. Wir haben den Mut, Gespräche aufzunehmen und uns darüber auszutauschen, was angesichts der deprimierenden Situation zu tun wäre, und Frieden mit anderen und mit der Natur zu schliessen.

Die französische Heilige Margareta Maria Alacoque war in ihrer Zeit keine privilegierte Frau. Was sie in ihrer Familie und durch die Mitschwestern erlebt hatte, war ganz und gar nicht ermutigend. «Nichts Neues unter der Sonne», könnte man sagen. Ihr Leben war von Krankheiten und Mutlosigkeit geprägt. Dennoch bat die kränkliche Frau König Ludwig XIV., für Frankreich eine Herz-Jesu-Kirche zu bauen. Sie fand natürlich kein Gehör. Erst 200 Jahre später wurde die Basilika Sacré-Cœur de Montmartre von Paris zu «Ehren des Herzens Jesu» gebaut.

Viele Mystikerinnen und Mystiker kannten ähnliche Seelenzustände: Hildegard von Bingen, Gertrud von Helfta, Johannes vom Kreuz. Sie hatten Zugang zu ihrem Herzen mit seinen Verletzungen und Hoffnungen und fanden sich, so scheint es, im «Herzen des Christus» wieder.

Auch wir mögen hie und da unser Herz schlagen hören und danken für unser Leben. Vielleicht erfahren wir eine Kraft, die ruhiger, menschlicher, mutiger und beständiger ist als die unsrige.

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, freiwillige Seelsorgerin in der Predigerkirche Zürich