Im Gespräch mit A.B. ist deutlich zu spüren, wie nahe ihr das Erlebnis in der Kindheit auch heute noch geht. | © Leonie Wollensack
Im Gespräch mit A.B. ist deutlich zu spüren, wie nahe ihr das Erlebnis in der Kindheit auch heute noch geht. | © Leonie Wollensack
16.11.2023 – Aktuell

«Ich wollte beten, aber es kamen keine Worte»

Sexueller Missbrauch in der Kirche: Für die Betroffenen gibt es keine Verjährung

Der Fall ist juristisch längst verjährt, aber der Übergriff, den A.B. (Name der Redaktion bekannt) vor 46 Jahren erlebt hat, prägt sie bis heute. Im Gespräch mit «Kirche heute» sagt sie, was damals passiert ist und was sie heute von der Kirche erwartet.

Es geschah bei der Beichte, nicht in einem dunklen Beichtstuhl, sondern am Tisch in einem Zimmer, ohne Anonymität. Der Seelsorger, Priester C., sass dem damals 11- oder 12-jährigen Mädchen gegenüber und schaute ihr ins Gesicht. Es habe zwar ein Holzgitter als Sichtschutz gegeben, das sei aber nicht zum Einsatz gekommen, erzählt die Endfünfzigerin im Gespräch mit «Kirche heute».

Sie habe jede Woche beichten gehen müssen, ihre Mutter, die als Reformierte in eine katholische Familie geheiratet hatte, habe sich sehr darum bemüht, alles richtig zu machen. «Es war auch nicht hinterfragbar, dass man beichten geht. Ich hatte aber schon als Kind kritische Fragen zum Glauben und zur Beichtpflicht.» Sie habe jeweils gar nicht gewusst, was sie beichten sollte, und habe dann auch Sachen erfunden.

So verlief gemäss ihren Schilderungen auch damals, als es zum Vorfall kam, das Beichtgespräch stockend. Der Seelsorger habe dann begonnen, Fragen zu stellen. Konkrete Fragen nach verschiedenen sexuellen Handlungen und ob A.B. diese schon einmal vorgenommen habe. Sie sei zwar aufgeklärt gewesen, habe mit diesen Fragen jedoch nichts anfangen können. Sie spürte aber sofort, dass da etwas «nicht gut», «nicht recht», nicht in Ordnung war.

Wut statt Gebete

«Mein Kopf war wie ausgeschaltet», beschreibt sie ihre Reaktion. Am liebsten wäre sie davongelaufen, doch der Seelsorger sei zwischen ihr und der Türe gesessen. «Ich bin einfach erstarrt.» Zum Abschluss des Beichtgesprächs habe sie den Auftrag erhalten, Vaterunser und Ave Marias zu beten. Ein Auftrag zur Busse, der sie heute noch empört und den sie damals nicht erfüllen konnte. «Ich setzte mich in die Kirchenbank und wollte beten, aber es kamen keine Worte», erzählt sie.

Sie habe doch gar nichts getan, habe sie gedacht. Statt der Gebete kam die Wut. Und sie zog klare Konsequenzen: Dem Seelsorger, der auch ihr Religionslehrer gewesen sei, sei sie so gut wie möglich ausgewichen und sie sei nie mehr beichten gegangen. Sie habe niemandem vom Vorfall erzählt, auch den Eltern nicht.

Jahrelang verdrängt

Wie viele andere von Missbrauch Betroffene hat sie lange geschwiegen. «Ich schob es beiseite, verdrängte es lange Jahre», sagt sie. Der Anblick eines Beichtstuhls in Mariastein habe das unangenehme Erlebnis wieder hochkommen lassen. «Mir wurde schlecht, ich fing an zu zittern. Da kamen Bilder, und dann war es wieder da», sagt sie. Bis dahin hatte sie mit keiner Menschenseele darüber gesprochen, jetzt, mit Anfang 20, erzählte sie erstmals davon. Wieder etliche Jahre später habe sie mit einer Seelsorgerin darüber reden können und kurz vor der Pandemie wandte sie sich ans Bistum.

Was hat sie dazu bewogen, sich mit ihrer Geschichte beim Pfarrblatt zu melden? Ihr Wunsch sei es, abzuklären, was war, und aufzuklären, sagt sie. Dabei geht es nicht nur um ihren eigenen Fall. Die Frage, ob der Priester C. auch andere belästigt habe, quäle sie am meisten. Der Kirche wirft sie vor, dass sie die Übergriffe als isolierte Einzelfälle behandle und durch diese Individualisierung das System und die Strukturen ausblende.

Nach mehreren Anläufen, beim Bistum mehr in Erfahrung zu bringen, ist sie zum Schluss gekommen, dass die Kirche gar nicht wissen wolle, was sonst noch gewesen sei. Als Betroffene fühlt sie sich rechtlos, ohne Stimme. Auf ihre Fragen zu den Rechten als Betroffene habe sie keine explizite Antwort erhalten.

Die Kirche in Pflicht nehmen

Der Vorfall hat ihre Beziehung zur Kirche zwar nachhaltig gestört, sie ist aber nach wie vor Kirchenmitglied und auch ihre Kinder sind katholisch. Austreten sei für sie auch deshalb keine Option, weil sie es der Kirche nicht zu einfach machen wolle. «Ich würde die Kirche gerne in die Pflicht nehmen», sagt sie.

Der Möglichkeit, eine Genugtuung zu beantragen, steht sie mit gemischten Gefühlen gegenüber. Es ist ihr klar, dass ihr Fall juristisch längst verjährt ist, doch die Abgeltung des Unrechts mit einer Genugtuung hat für sie einen negativen Beigeschmack. Zugleich fragt sie sich, ob ihr Fall eine Genugtuung rechtfertigt. «Anderen ging es viel schlimmer als mir, er hat mich nicht angefasst», sagt sie. Aber auch: «Es prägt mich bis heute.»

Alltägliche Gewalt

Was konkret wünscht sie sich für Betroffene? Und was heisst für sie «Aufarbeitung»? Sie weist auf die strukturellen Ursachen in der Kirche selbst, aber auch auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext hin. Gewalt in verschiedenen Formen sei damals – 1970-er Jahre, dörflich-ländliches Umfeld – alltäglich gewesen. Nicht nur die Kirche, auch die Gesamtgesellschaft sei gefragt bei der Aufarbeitung und Aufklärung.

Der Umgang mit den verjährten Fällen ist für sie von zentraler Bedeutung. Daran lasse sich messen, wie ernst es der Kirche mit der Aufarbeitung der Missbrauchsproblematik sei. Von der Kirche erwartet sie, dass sie mehr tut als einfach nur das zu tun, was nötig sei. Für Betroffene wäre es wünschenswert, wenn sie einen Bericht über die Abklärungen erhalten würden.

Regula Vogt-Kohler