Sich mit den Händen überzeugen: Sehbehinderte ertasten die Ornamentik des Osterleuchters im Trierer Dom. | © kna-bild.de
Sich mit den Händen überzeugen: Sehbehinderte ertasten die Ornamentik des Osterleuchters im Trierer Dom. | © kna-bild.de
25.06.2020 – Impuls

Johannes 20,24–29

Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.
Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: … Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Ich muss mich überzeugen können

In diesen Monaten der staatlichen Verordnungen ist in mir wie selten zuvor die Frage lebendig geworden, auf wen ich schaue, wenn es um mein Verhalten geht. Folge ich der Autorität und bin immer regelkonform? Folge ich den Wissenschaftlern und glaube an etwas, das ich nicht sehen kann? Oder unterscheide ich zwischen meinem öffentlichem und meinem privaten Leben? Vielleicht erscheine ich als angepasst, wenn Fremde mich sehen können, schere mich aber keinen Deut um die Regeln, wenn ich mit Freunden zusammen bin?

Wenn es um meine Überzeugungen geht, wem folge ich dann? Allzu leichtgläubig schliesse ich mich oft der vermeintlichen Mehrheit an, um nicht anzuecken. Gegen den Strom zu denken, kostet Kraft. In vielen Diskussionen stelle ich meine vorläufige Einstellung anderen Menschen vor und höre darauf, wie sie denken. Ich stehe im Dialog, ich sage gar: Ich entstehe im Dialog. Und ich bleibe (hoffentlich) lernfähig und bin bereit, mich überzeugen zu lassen.

Wer mich überzeugt und was mich schliesslich verändert, entscheidet sich nur zum Teil in bewusster Weise. Es geht in mir nicht immer sehr sachlich zu. Frühere Erfahrungen und die Beziehungen zu meinen Gesprächspartnern spielen bedeutende Rollen. Und natürlich ist oft meine Angst um Zugehörigkeit grösser als meine aufrichtige Suche nach der Wahrheit.

Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium, der am Fest des hl. Thomas gelesen wird, eignet sich vorzüglich für eine kleine Provokation. Man muss nur die Mitte weglassen (wie im oben gedruckten Text), und schon ergibt sich eine moralische Interpretation, die wir gut kennen. Blind zu glauben und sich grad nicht selbst überzeugen zu wollen, war jahrhundertelang das gepredigte Ideal. Weil er damit nicht einverstanden war, wurde Thomas als der Zweifler in die Ecke der unanständigen Heiligen gestellt. Zweifeln galt als das Tor zur Sünde, Selberdenken stand im Geruch der Ungläubigkeit und hatte oft (physisch oder sozial) den Ausschluss aus der Gemeinde zur Folge.

Thomas hatte stets den Hang zum Selberdenken. Darum ist er der Schutzpatron der Zweifler, ein dringend benötigter Heiliger aller Zeiten. Und weil er von Jesus eben nicht moralisch abgekanzelt wurde, gehört die Mitte des Evangeliums unbedingt nachgeliefert:

Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du.

Die Methode des kritischen Hinterfragens wird da von unserer höchsten religiösen Autorität legalisiert: Überzeug dich selbst und sei nicht ungläubig – und nicht leichtgläubig –, sondern gläubig. Wir werden ermutigt, auch in religiösen Fragen kritisch zu bleiben. Wir werden ermutigt, genau hinzuschauen, wem wir Glauben schenken und wem nicht, und uns selbst und unseren Gedanken treu zu sein. Wir müssen und dürfen uns selbst überzeugen. Unter Umständen ergeht es uns dabei wie Thomas. Er ging seinen eigenen Weg, auch wenn er damit nicht wirklich Karriere gemacht hat. Er kam nicht nach Rom und nicht nach Jerusalem oder wie immer die Mitte der Welt heissen mag. Er sei nach Indien ausgewandert und bleibt uns dennoch sehr nahe.

Ludwig Hesse, Theologe, Autor und Teilzeitschreiner, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland