Damit Orchideen zur Blüte gelangen, braucht es gärtnerische Hingabe. | © Erwin Lorenzen/pixelio.de
Damit Orchideen zur Blüte gelangen, braucht es gärtnerische Hingabe. | © Erwin Lorenzen/pixelio.de
03.11.2022 – Impuls

Brief an die Epheser 3,14–17

Daher beuge ich meine Knie vor dem Vater … Er gebe euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit, dass ihr in Bezug auf den inneren Menschen durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt. Durch den Glauben wohne Christus in euren Herzen, in der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet.

Einheitsübersetzung 2016

 

Hingabe führt zu Entfaltung und Freiheit

«Nothing in nature blooms all year.» So reagierte meine Physiotherapeutin, als ich erwähnte, dass es da und dort schmerzt. Nichts kann das ganze Jahr blühen, auch nicht der Mensch. Und so auch meine Pflanze auf dem Balkon. Auf dem Markt fragte ich im letzten Herbst nach einer Pflanze, die Schmetterlinge anziehen soll. Sie blühte vor einem Jahr wunderbar mit dunkelroten, zarten Blüten. Aber dann war nichts mehr los und schon gar nicht in diesem heissen Sommer. Ich goss sie treu und dachte immer, es würde mich nicht wundern, wenn sie im Herbst wieder blühen würde. Und so war es auch. Im September begann sie zu blühen, und wie. Die Pflanze zaubert noch immer neue Blüten hervor und die Insekten kommen vorbei. Ich staune.

«Du Blüte aller Blüten», «Geliebter», «mein lieber Freund»,

«Oh Liebe, halte mich und hab mich dir zu eigen, denn fürderhin, (nirgends sonst), wenn nicht in dir, hab ich nicht Lebenshauch noch Seele.» (Exercitia spiritualia)

Wir sind bei der heiligen Gertrud. Sie spricht die Sprache des Herzens. Es sind innere Bilder, die ihre Beziehung zu Gott andeuten. Sie wurde als äusserst intellektuelle und gleichzeitig geistliche Frau verehrt. Aber sie schrieb auch, dass sie sich durch ihre Hingabe an Jesus und mit ihm zusammen frei fühle. Ihre Einheit mit ihrem Herzen und ihre offensichtliche und unbegreifliche Einheit mit dem Herzen Christi führte sie zu ihrer Entfaltung und Freiheit.

Der Mensch, so heisst es im Epheserbrief, soll an «Kraft und Stärke» zunehmen. Nun dies ist leicht gesagt. Uns beschäftigen zurzeit andere Schwierigkeiten, die lähmen und nicht beflügeln. Wer möchte nicht ein freies Herz haben, frei von Problemen, Zeitdruck, Pessimismus durch den Krieg und andere Krisen, und vielleicht sogar materiellen Einschränkungen? Da, so in diesem Text aus der Bibel, ist es sein Geist, der Kraft und Hoffnung schenkt. Christus wohnt in unseren Herzen, und deshalb kann der Mensch aufleben, Hoffnung und Frieden finden. Aus der Mitte, aus der Stille, aus der Zuwendung zum Herzen erwachsen Kraft und Energie. Und da diese uns unbekannte Heilige ganz aus der Hingabe an «ihren Freund» lebte, blühte sie auf, konnte sie in ihrer Zeit eine ungewöhnliche Frau und Ratgeberin werden.

Es klingt sehr poetisch, diese Anrede an Gott «Du Blüte aller Blüten», Lebenshauch, Freund. Vielleicht finden wir eine eigene Anrede, die in unserer Mitte spricht.

Ich füge einen Ausschnitt aus einer Schrift (Legatus I,XIV) der Heiligen an. Sie lässt Gott in ihrem Herzen sprechen:

«Fürchte dich nicht, sondern sei getröstet, stark und sicher. Denn ich selber, der Herr und Gott, dein lieber Freund, habe dich aus unverdienter Liebe geschaffen und erwählt, um in dir zu wohnen und mich an dir zu erfreuen.»

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, freiwillige Seelsorgerin in der Predigerkirche Zürich