Einfach durch ihr Dasein erzählten die Enten am Thunersee dem Autor vom Wunder des Lebens. | © Uwe Kunze/pixelio.de
Einfach durch ihr Dasein erzählten die Enten am Thunersee dem Autor vom Wunder des Lebens. | © Uwe Kunze/pixelio.de
29.06.2023 – Impuls

Matthäus 10,27–31

Jesus spricht: Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet im Licht, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern! Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch eher vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann!

Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen.

Einheitsübersetzung 2016

 

Heilige Unschuld, heiliges Wunder

Ein Kind ist gestorben, eine Frühgeburt, gestorben nach einer Stunde Leben. Warum hat es sterben müssen, warum hat es überhaupt gelebt? Kann man einem so kurzen Leben einen Sinn abgewinnen? Ich wills versuchen.

Dafür muss ich ein wenig weiter ausholen: Ich bin ein Kind aus armen Verhältnissen. Und nach dem frühen Tod meines Vaters war ich auf eine seltsame Weise allein, allein nämlich mit meinen Fragen. Und das hat mich geprägt. Ich konnte nie sagen: Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass es mich gibt.

Ich war auf der Suche nach einer befriedigenden Antwort auf die Frage: «Was muss geschehen, dass ich sagen kann, mein Leben lohnt sich oder hat sich gelohnt?» Mit einigen Versuchen bin ich gescheitert: Ich habe versucht, mich mit Leistung zu begründen, vergeblich. Ich habe es mit Engagement für Benachteiligte versucht, vergeblich, auch das endete im Leistungsbeweis. Ich habe versucht, den Plan Gottes für mich zu erkunden (deshalb habe ich wohl Theologie studiert), auch vergeblich. In all dem fand ich keine Antwort auf die Frage, warum und wozu ich denn auf der Welt bin.

Am Thunersee hatte ich ein Erlebnis. Es war in einer Pause eines Seminars in Gwatt, ich sass am Seeufer auf einer Bank und sah den Enten zu. Und plötzlich war die Frage wieder da, diesmal aber in die andere Richtung: Wofür lohnt sich das Leben einer Ente? Sie schwamm einfach im Uferwasser und quakte einer Nachbarente munter zu. Und plötzlich sah ich: Dieses kleine Entlein ist ein Wunder, und es reicht absolut, dass es einfach da ist. Das Leben ist etwas Grossartiges, Wunderbares. Und ich selbst bin ebenso etwas Wunderbares und Einmaliges. Da brauche ich nicht grosse Taten und Leistungen. Ich habe plötzlich über die Ente staunen können und über mich selbst auch.

Ohne Leistungen des Willens, einfach durch ihr Dasein hat sie vom Wunder des Lebens erzählt. Mich hat sie damit erreicht, ohne es zu wollen oder zu merken. Das Leben ist heilig, längst bevor wir etwas daraus machen.

Über Maria Goretti weiss ich eigentlich nicht viel (siehe Kasten). Aber sie scheint nicht durch Leistungen heilig geworden zu sein. Als ein missbrauchtes Kind wird sie zum Mahnmal. Jedes Kind ist heilig, ist Wunder, ist eine ganze Schöpfung, und Missbrauch ist …

Im Spiegel der heiligen Unschuld (zum Beispiel Kind oder Natur, Ferien sind eine Chance dafür) darf sich jede und jeder als Wunder des Lebens begreifen, mit Anteil am Wunder der ganzen Schöpfung, Sternenstaub und Liebe. Und aus dem quälenden Fragen kann langsam ein dankbares Staunen werden.

Der Satz eines Strassenwischers in Fribourg hat mich beeindruckt. Er ist selbst auch ein Mensch mit vielen Fragen. Eine Antwort, die er gefunden hat, hat er aufgeschrieben. Da heisst es in seinem Büchlein: «Es ist doch gleichgültig, ob man das Fassungsvermögen eines Fingerhuts oder einer Zisterne hat. Was zählt, ist die Fülle.» (Michel Simonet, Mit Rose und Besen, Nydegg-Verlag Bern 2016, S. 125)

Ludwig Hesse, Theologe und Autor, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland.