16.06.2022 – Editorial

Gruppendynamik

Verglichen mit dem Gedränge in den Lockdownwochen im Frühling 2020 ist auf Wald- und Feldwegen längst wieder Normalität eingekehrt. Die üblichen Benutzer und Benutzerinnen sind wieder unter sich und drehen zu den üblichen Zeiten ihre Runden. Und weil im Moment (und noch bis Ende Juli) im Wald und am Waldrand zum Schutz des Wildtiernachwuchses Leinenpflicht herrscht, verlaufen Begegnungen mit Hunden und Hundehaltern/innen entspannt.

Dennoch kommt es zu Engpässen, beispielsweise weil sich eine Nordic-Walking-Gruppe auf einer geräumigen Kreuzung breit gemacht hat und sich ganz auf den Vorturner und das korrekte Ausführen von Dehnübungen konzentriert. Weil links hohes Gras und rechts junge Maispflanzen stehen, bleibt nur der Weg mitten durch. Und selbst auf schmalen Pfaden erlebt man es immer wieder, dass sich Gruppen nur widerstrebend zur Einerkolonne formieren, um so Entgegenkommende passieren zu lassen.

Aus neutraler Warte beobachtet mag das Gebot des Platzmachens offenkundig erscheinen, für die Mitglieder der Gruppen ist es das aber nicht. Der Blick durch die Gruppenbrille gilt in erster Linie der eigenen Gemeinschaft. Diese Optik drückt Verbundenheit und Zugehörigkeit aus, aber auch Ab- und Ausgrenzung. Dem Wir stehen die Anderen gegenüber, die man selbst in banalsten Alltagssituationen nicht oder vor allem negativ wahrnimmt. Dabei sollten uns doch die Gefahr einer weltweiten atomaren Katastrophe oder die Klimakrise längst klar gemacht haben, dass es neben den vielen verschiedenen Gruppen auch ein übergeordnetes «Wir» gibt.

Regula Vogt-Kohler