«Fronteras» von José Luis Pascual, eine der Installationen von «La Balade de Séprais» in der Nähe von Delémont. | © Ludwig Hesse
«Fronteras» von José Luis Pascual, eine der Installationen von «La Balade de Séprais» in der Nähe von Delémont. | © Ludwig Hesse
27.09.2023 – Impuls

 

Aus Psalm 126

Als der Herr das Geschick Zions wendete, da waren wir wie Träumende.
Da füllte sich unser Mund mit Lachen und unsere Zunge mit Jubel.
Da sagte man unter den Völkern: Gross hat der Herr an ihnen gehandelt!
Ja, gross hat der Herr an uns gehandelt. Da waren wir voll Freude.
Wende doch, Herr, unser Geschick, wie die Bäche im Südland.
Die mit Tränen säen, werden mit Jubel ernten.
Sie gehen, ja gehen und weinen und tragen zur Aussaat den Samen.
Sie kommen, ja kommen mit Jubel und bringen ihre Garben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Wie ein Traum wird es sein, wenn wir Grenzen überwinden

Mitten in der wunderbaren Landschaft des Kantons Jura steht der Zaun in der Wiese, ein Künstlerzaun, leicht zu umgehen. Und dennoch ist es schwer, daran vorbeizukommen. Zwischen einigen Pfählen ist Stacheldraht gespannt, und daran hängen Hände aus Blech. Vielleicht hängengeblieben Hände von Menschen, die versucht haben, die aufgerichtete Grenze zu überwinden, vielleicht Hände, die denen entgegengestreckt wurden, die jenseits dieser Grenze an Verzweiflung zerbrachen. An den Grenzen dieser Welt hängen überall solche Hände, nur haben sie nicht überall ein Denkmal. Die Berliner Mauer gibt es nicht mehr, die Toten bleiben trotzdem tot, die im Mittelmeer Ertrunkenen bleiben unsichtbar versunken. Und so geht es an all den Grenzen, die Menschen daran hindern sollen, auf die andere Seite zu kommen, auf die Seite der erhofften Freiheit von Verfolgung, Verzweiflung, Ausweglosigkeit.

Am Festtag des hl. Wenzel werden wir eingeladen, über die unglaubliche Erfahrung zu staunen, dass ein Grenzzaun überwunden werden konnte. Das Ende der jüdischen Gefangenschaft in Babylon kann ebenso gemeint sein wie der Fall der Berliner Mauer. «Nur mit Gottes Hilfe kann das geschehen sein», staunen die Befreiten, sie erinnern sich auch lange Zeit nach ihrer Befreiung immer noch daran, dass sie sich wie Träumende gefühlt haben. Diese Erfahrung macht Hoffnung darauf, dass auch andere Grenzen überwunden werden können: «Gott, lass es doch wieder geschehen», ist ihr Gebet.

So sind der Zaun in der grünen Jurawiese und der Psalm, der von Befreiung singt, zwei Seiten der gleichen Münze. Wir sind eingeladen, beide Seiten wahrzunehmen. Es gibt weiterhin die vielfältigen Grenzen, sie scheinen wieder zuzunehmen in unserer Zeit, und es gibt ebenso die Hoffnung auf die Überwindbarkeit des Stacheldrahts durch Engagement, Mut und Gottvertrauen. Die Toten zu übersehen und zu vergessen, ist das Ende der Menschlichkeit, den Toten Denkmäler zu bauen, reicht aber auch nicht. Es gilt, die Zäune wahrzunehmen und die Menschen hinter den Zäunen, Hände zu reichen über die Grenzen hinweg und die Gemeinsamkeit der Hoffnung zu entdecken.

So geht es nicht darum, den Verantwortungsträgern und Machtausübenden vorzuhalten, was sie falsch machen und was wir (selbstverständlich) besser machen würden. Verändern können wir nur uns selbst, und im Blick auf unser eigenes Empfinden und Denken werden wir den Stacheldraht in uns entdecken. Vielleicht entdecken wir auch das Erlebnis einer eigenen Grenzüberwindung, bei der wir nicht Schaden genommen, sondern Befreiung erfahren haben, Kraft der Hoffnung gegen die Angst, wie sie der Psalm 126 schildert.

Vorschlag: Sie besuchen einmal die Künstlerinstallationen in Boécourt, La Balade de Séprais, und verharren still vor «Fronteras» von José Luis Pascual. Dann lesen Sie den Psalm 126, den Sie mitgenommen haben.

Wir werden vielleicht den einen oder anderen Zaun in unseren Köpfen beseitigen, wenn wir unsere eigene Begrenztheit wahrnehmen und merken, dass die anderen ebenso von Angst und Hoffnung bewegt werden wie wir selbst. Wie ein Traum wird es uns vorkommen, wenn wir merken: Statt Stacheldraht wächst unsere Toleranz.

Ludwig Hesse, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland