«Ein Kind sein vor Gott bedeutet, …, alles vom lieben Gott erwarten, genauso wie ein kleines Kind alles vom Vater erhofft», sagt Therese von Lisieux. | © Annamartha/pixelio.de
«Ein Kind sein vor Gott bedeutet, …, alles vom lieben Gott erwarten, genauso wie ein kleines Kind alles vom Vater erhofft», sagt Therese von Lisieux. | © Annamartha/pixelio.de
23.09.2021 – Impuls

Matthäus 18,1–4

In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist denn im Himmelreich der Grösste? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Grösste.

Einheitsübersetzung 2016 

 

Gottes Vorliebe für das Kleine

«Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder.» Es ist auffällig, dass Jesus in seinen Gleichnissen gerne mit den kleinen Dingen argumentiert: Da ist zum Beispiel vom Samenkorn die Rede, von den Lilien auf dem Feld, von den Spatzen oder von den zwei Münzen der Witwe. Und dann sind da vor allem die Kinder, die in ihrer Art zum Gleichnis für das Reich Gottes werden. «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder»: Was meint Jesus damit? Warum nimmt er ein Kind als Massstab? Es kann ja wohl kaum darum gehen, dass wir alle kindisch werden. Und es wird wahrscheinlich auch nicht daran liegen, dass Kinder so unschuldig sind. Denn in Wirklichkeit sind die Kleinen ja meist gar nicht so unschuldig.

Eine, die dieses Kind-Sein, diese geistliche Kindschaft bewusst gelebt hat, ist die Hl. Theresia von Lisieux. In den kleinen Gesten des Alltags hat sie versucht, ihre Hingabe an Gott und die Mitmenschen zu leben. Ihr geistlicher Weg wird auch «der kleine Weg» genannt. «Klein», weil er nichts «Aussergewöhnliches» fordert und daher von jedem Menschen gegangen werden kann. Theresia hat verstanden, dass es nicht darum geht, wieviel wir leisten, sondern wieviel Liebe und Vertrauen in unserem Tun steckt. Dazu erzählt sie viele ganz konkrete Geschichten: wie sie zum Beispiel versucht hat, eine Stecknadel mit Liebe vom Boden aufzuheben oder wie sie sich bewusst bemüht hat, sich keine Sorgen mehr darüber zu machen, dass sie beim Gebet oft einschlief, denn ein Vater liebe sein Kind ja nicht weniger, wenn es schlafe. Sie selber beschreibt diese innere Haltung folgendermassen: «Es ist der Weg des Vertrauens und der völligen Hingabe … Ein Kind sein vor Gott bedeutet, sich seiner eigenen Nichtigkeit bewusst sein (und deshalb), alles vom lieben Gott erwarten, genauso wie ein kleines Kind alles vom Vater erhofft.»

Es tönt so simpel und die blumige Sprache der jungen Ordensfrau hinterlässt manchmal fast schon einen etwas kitschigen Nachgeschmack. Und doch:

Auf diesem «kleinen Weg» hat Theresia es geschafft, Patronin der Weltmission zu werden, obwohl sie ihre Heimatregion kaum je verliess. Sie avancierte als erst dritte Frau überhaupt zur Kirchenlehrerin, obwohl ihre theologischen Schriften kaum an die Brillanz der grossen Werke der Christenheit heranreichen. Und sie wurde zu einer der bekanntesten und beliebtesten Heiligen der katholischen Kirche, obwohl sie bereits mit 24 Jahren an Tuberkulose starb und fast die Hälfte ihres kurzen Lebens hinter den Klostermauern des Karmel verbracht hat.

Theresias Weg ist Christi Weg und deshalb auch ein Angebot an uns Menschen von heute: Gott lieben, weil er uns liebt! Sich ihm überlassen – in einer Glaubenshaltung, die von kindlichem Vertrauen geprägt ist. Mit den Worten Theresias: «Ich bin zu klein, um diese mühsame Treppe der Vollkommenheit emporzusteigen … Der Aufzug, der mich bis zum Himmel emportragen wird, sind Deine Arme, O Jesus.»

Nadia Miriam Keller, Theologin, arbeitet als Spitalseelsorgerin i.A. am St. Claraspital in Basel