Unscheinbar sind die Momente des Friedens: Ein Blick in den Himmel, wo ein Vogel zieht … | © Heinrich Lins/pixelio.de
Unscheinbar sind die Momente des Friedens: Ein Blick in den Himmel, wo ein Vogel zieht … | © Heinrich Lins/pixelio.de
26.01.2023 – Impuls

Markus 10,29–30

Jesus antwortete: Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Es geschieht beim Loslassen

Im Markusevangelium folgt diese Antwort von Jesus an Petrus und die Jünger auf die Begegnung mit dem reichen Mann, der alle Gebote einhält und von Jesus aufgefordert wird, all sein Gut zu verkaufen und den Armen zu geben. Die Verheissung des hundertfachen Lohns wird gerne für Frauen und Männer gebraucht, die sich ganz besonders in den Dienst von Gott und den Menschen gestellt haben. Aber wie ist es für uns, wenn wir dieses Jesuswort hören?

Vielleicht können wir von uns nicht sagen, dass wir alles getan haben für die Gerechtigkeit und für die leidenden Menschen. Der reiche Mann im Evangelium hat wirklich sehr viel getan, und dennoch reicht auch das noch nicht? Da schleicht sich bei uns doch fast notgedrungen das Gefühl ein, dass wir nicht genügen. Und schon hören oder lesen wir über den Sinn von Jesu Antwort hinweg.

Im Ratschlag an den gesetzestreuen, reichen Mann geht es um den Weg zum wahren Leben. Jesus trug ihm nicht auf, was er ausser seinen bisherigen Bemühungen auch noch zu tun habe, sondern was er aufgeben und verlassen müsse. Es geht nicht um etwas Zusätzliches, um ein «Noch mehr», sondern um das Leerwerden, um das Wesentliche zu empfangen. Die Fülle des Lebens lässt sich nicht erarbeiten. Sie erwartet uns, wenn wir loslassen, was uns gelungen und was uns widerfahren ist. Wir verdienen sie weder durch unser Engagement, durch unsere besten Seiten, noch durch das, was wir im Leben erfahren mussten, auch nicht durch seelisches und körperliches Leiden. «Jetzt, in dieser Zeit», so das Jesuswort, erhalten wir ein erfülltes Leben, wenn auch unter Schwierigkeiten, und wohl auch das ewige Leben.

Szenenwechsel. Kürzlich, eine leuchtende Schlagzeile am Hauptbahnhof Zürich: «Es ist besser für Sie, freundlich zu sein als reich.» Wow!, dachte ich. Was ist damit gemeint? Der Gedanke stammt aus einem Interview mit einem Anthropologieprofessor. Durch Kooperation und Freundlichkeit, so meint er, erreichen wir mehr. Es ist ansteckender für das Miteinander, wenn wir den Stil der Freundlichkeit beibehalten … Ich würde sogar sagen, es bringt uns weiter, uns selbst und unsere Umgebung.

Zurück zum Evangelium. Das Engagement des reichen Mannes, die Hingabe der Heiligen, sie führten und führen in die Tiefe des Lebens. So wie beim heiligen Hieronymus Ämiliani, der trotz des frühen Verlustes seines Vaters und trotz späterer Kriegsgefangenschaft ein Bruder und Freund der verlassenen Kinder und Jugendlichen wurde, gibt es im Leben ein «Darüber hinaus». Ein Miteinander statt ein Gegeneinander. «Jetzt, in dieser Zeit» (Markus 10,30) kommt die Erfüllung des Lebens uns entgegen. Unscheinbar sind die Momente der Freundlichkeit und unscheinbar die Augenblicke des Friedens. Es geschieht beim Loslassen.

Beim Hören der Musik aus dem Radio gleitet mein Blick durch das Fenster in den Himmel, wo in diesem Moment ein Vogel kreist. So ruhig wie die Musik, wie ein gemeinsamer Tanz.

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, freiwillige Seelsorgerin in der Predigerkirche Zürich