Nicole Bolliger von Brücke Le Pont (2. v. r.) beim Testkarbonisieren von organischen Abfällen für die Herstellung von nachhaltiger Kohle in Benin mit der Partnerorganisation AFeDDA. | © Brücke Le Pont
Nicole Bolliger von Brücke Le Pont (2. v. r.) beim Testkarbonisieren von organischen Abfällen für die Herstellung von nachhaltiger Kohle in Benin mit der Partnerorganisation AFeDDA. | © Brücke Le Pont
25.01.2024 – Hintergrund

Entwicklungshilfe neu denken?

Aktuelle Perspektiven auf die Arbeit von Hilfsorganisationen 

Auch dieses Jahr haben die Menschen in der Schweiz in der Advents- und Weihnachtszeit wieder gespendet; unter anderem für Projekte in der Entwicklungshilfe. Doch wie sinnvoll ist Entwicklungshilfe überhaupt? Das diskutiert in der neuen Folge des Podcasts «Laut+Leis» Sandra Leis mit Nicole Bolliger von der Entwicklungsorganisation Brücke Le Pont und Elísio Macamo vom Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel.

Sandra Leis: Nicole Bolliger, du arbeitest für die Entwicklungsorganisation Brücke Le Pont und bist Programmverantwortliche für Afrika. Könntest du uns bitte an einem konkreten Beispiel zeigen, wie Entwicklungszusammenarbeit aussieht?

Nicole Bolliger (NB): In Benin arbeiten wir mit einer lokalen Partnerorganisation, einer NGO (Nichtregierungsorganisation, Anm. d. Red.), zusammen. Und zwar in der Reis-Wertschöpfungskette, von der Produktion des Reises über die Verarbeitung, den Vertrieb bis zur Vermarktung. Wir haben zwar gemeinsam ein Ziel formuliert, das wir erreichen wollen, aber schlussendlich ist es die Partnerorganisation, die – zusammen mit den Projektteilnehmenden – den Inhalt des Projekts definiert und nach Lösungen für die konkreten, vor Ort existierenden Probleme sucht.

Im vergangenen November ist ein Video von einem US-amerikanischen Youtuber viral gegangen, der 100 Brunnen in Afrika gebaut hat. Das Video hatte 100 Millionen Klicks. Eigentlich möchte man ja weg von diesem Bild des «weissen Retters». Wie erklärt ihr euch, dass ein solches Video trotzdem so viele Klicks hat? Was spricht die Menschen an?

Elísio Macamo (EM): Ich denke, die Vorstellungen, dass Afrika Hilfe braucht und dass jeder, der diese Hilfe leistet, in einem schönen Licht erscheint, sind immer noch stark verwurzelt im Bewusstsein der Menschen hier. Es kommt auch gut an, wenn Menschen zeigen, was sie ganz konkret in Afrika tun. Fragen nach der Nachhaltigkeit dieser Hilfen, nach der Abgabe von Verantwortung seitens der Europäer und nach Eigenverantwortung der Afrikaner stellen sich die Wenigsten. Es existiert immer noch dieses Bild des armen Kontinents, der auf Hilfe angewiesen ist.

NB: Es ist auch dieses «Wir wollen klare Lösungen sehen». Aber Entwicklungsarbeit ist nicht schwarz und weiss. Man muss nuancieren, differenzieren. Es braucht Zeit und Raum, den Menschen diese Komplexität zu erklären, aber die haben wir nicht immer.

EM: Es geht nicht nur darum, dass die Leute keine Brunnen haben oder keinen Zugang zu Wasser. Sondern da stehen politische Strukturen dahinter, die verändert werden müssen und das kann kein Ausländer leisten. Das muss die Bevölkerung selbst machen.

Ein Schlagwort der Stunde ist die sogenannte «Decolonizing Aid». Hilfswerke wollen die kolonialen Wurzeln der Zusammenarbeit überwinden. Doch ist partnerschaftliche Hilfe überhaupt möglich, wenn einer Geld gibt und der andere empfängt?

EM: Das ist fast die Quadratur des Kreises. Ich denke, es gibt Inhalte in diesem Dekolonisierungsdiskurs, die wichtig sind. Vor allem alle Inhalte, die mit Respekt zu tun haben. Also zum Beispiel, nicht immer die Weissen als Retter darzustellen und die armen Afrikaner als die Empfänger der Almosen. Nicole hat erwähnt, dass ihre Organisation Leute vor Ort hat, die dort die Arbeit machen. Das ist bereits Teil einer «Decolonizing Aid». Aber unter der Voraussetzung, dass es auf der einen Seite Länder und Gesellschaften mit Geld und technischem Wissen gibt und auf der anderen Länder, mit denen geteilt wird, kann ich mir nicht vorstellen, wie eine Decolonizing Aid aussehen könnte. Das Problem ist schon die Hilfe an sich und nicht, wie sie umgesetzt wird. Es gibt einige Menschen in Afrika wie etwa Dambisa Moyo, eine Ökonomin aus Sambia, oder James Shikwati, einen Aktivisten aus Kenia, die sagen, wir sollten mit den Hilfen aufhören. Denn die führt ihrer Auffassung nach nicht dazu, dass afrikanische Regierungen Verantwortung übernehmen und regieren, sondern dazu, dass sie abhängig bleiben. Und das schaffe auch Raum für Korruption.

Nicole, wieso braucht es auch heute noch Hilfswerke?

NB: Für mich ist es eine Frage der globalen Solidarität und Gerechtigkeit. Wir haben globale Probleme und wir sollten sie global angehen. Ich sehe die Zusammenarbeit mit unseren Partnern nicht als einen Wissenstransfer vom globalen Norden zum globalen Süden. Für mich sind das gemeinsame Lernprozesse, es ist ein Wissensaustausch, und ich persönlich nehme da auch immer extrem viel mit.

EM: Wir behaupten, wir hätten die eine Welt, aber wir haben mehrere Welten. In der Diskussion stört mich, dass wir der Geschichte nicht ausreichend Rechnung tragen. Mich stört zum Beispiel, dass es bei den ehemaligen Kolonialmächten nie eine Aufarbeitung und Vergangenheitsbewältigung der Kolonialzeit gegeben hat. Momentan beginnt sie langsam, mit der Diskussion über Restitutionen. Das Problem in Afrika ist, dass dieser Kontinent sich in einer Welt zurechtfinden muss, die er nicht selbst aufgebaut hat. Wir leben in einer europäischen Welt und sie ist voller Widersprüche. Und diese Widersprüche kommen dann in der Entwicklungsarbeit zum Tragen.

Was haltet ihr denn von der Idee des sogenannten «give directly»? Das ist die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ein Mensch bekommt beispielsweise 1000 Dollar und kann damit machen, was er will. Wäre das besser als der aktuelle Entwicklungsapparat?
EM: Ich würde das begrüssen. Aber die Frage ist, ob dieser internationale Entwicklungsapparat, die Leute, die von der Entwicklungszusammenarbeit leben, dazu bereit wären. Anfang der 2000er war eine Direktbudgethilfe bereits im Gespräch. Sie ist genau am Widerstand des internationalen Entwicklungsapparats gescheitert. Weil die Leute sich nicht vorstellen konnten, keine Aufgabe mehr zu haben. Damals ging es nicht darum, das Geld an einzelne Individuen zu verteilen, sondern es den afrikanischen Regierungen zur Verfügung zu stellen, und die sollten dann entscheiden, was damit geschieht. Aber es kam nicht dazu, weil die offiziellen Entwicklungshelfer Widerstand geleistet haben. Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang noch ansprechen möchte: In unseren Versuchen, Entwicklungsherausforderungen zu definieren, sprechen wir immer von Armut. Aber aus meiner Sicht als Afrikaner ist nicht die Armut das Problem, sondern der Reichtum. Denn die Art und Weise wie die Welt organisiert ist, wie manche Länder reich werden, ist der Grund, weshalb es arme Länder gibt. Wenn wir sagen, «wir müssen etwas gegen Armut tun», dann übernehmen wir die Perspektive der Länder, die ein Interesse daran haben, die Strukturen so zu belassen, wie sie sind. Wenn wir aber die ganze Diskussion auf den Kopf stellen würden und sagen würden: «Nein, nicht die Armut ist das Problem, sondern der Reichtum», dann hätten wir eine andere Diskussion.

Gekürztes Interview. Das Interview führte Sandra Leis für den Podcast «Laut+Leis».

Die ganze Folge kann unter dem Titel «Wie sinnvoll ist Entwicklungshilfe?» bei verschiedenen Podcast-Anbietern abgerufen werden oder direkt auf der Website kath.ch/podcast.