Wer im Bild wen stützt und beschützt ist durchaus und ganz bewusst unklar. | © zVg
Wer im Bild wen stützt und beschützt ist durchaus und ganz bewusst unklar. | © zVg
02.05.2024 – Impuls

Lukas 24, 13-19a

Und siehe, am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus […] Und es geschah, während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus selbst hinzu und ging mit ihnen. Doch ihre Augen waren gehalten, sodass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen und der eine von ihnen – er hiess Kleopas – antwortete ihm: Bist du so fremd in Jerusalem, dass du als Einziger nicht weisst, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn?

Einheitsübersetzung 2016

 

Einander zum Geschenk werden

Vor einer Woche wäre sie 100 Jahre alt geworden, vor 30 Jahren ist sie verstorben. In dem reichen Werk, das Edeltraud Abel hinterlassen hat, spricht sie ganz direkt mit uns, die wir ihre Bilder betrachten. Ich durfte sie begleiten, ausgehend vom Tod ihres Mannes 1981 bis zu ihrem Tod 1994. Und sie hat mich begleitet. Jede Begegnung mit ihr war «total gegenseitig». Wir wurden einander zum Geschenk.

Ich denke oft an sie, wenn ich Begegnungen erlebe, die so gegenseitig bereichernd sind, jenseits von Rollenverteilungen und Aufgaben, Absichten und Zielen. Dann werden Unterschiede unwichtig, und es wird möglich, einander als Menschen mit Hoffnung und Leiden, mit Angst und Freude zu erkennen. Edeltraud Abel hat solche Grunderfahrungen reflektiert und in Bildern verstehbar gemacht.

Wenn ich die Zeichnung zu diesem Impuls betrachte, dann berührt mich die Innigkeit, mit der sich ein alter und ein junger Mensch einander zuwenden. Ihre Begegnung ist so dicht, dass die Welt ringsherum verschwindet. «Gut, dass du da bist!», sagen sie einander. Natürlich denke ich gleich an die Enkelkinder und die wunderbaren Momente, die sie mir schenken. Wer hütet da wen? Gemeinsam malen, eine Hütte im Wald bauen, einen Kuchen backen oder einfach nur gemeinsam gehen. Das Erlebnis ist nicht abhängig vom Thema, es kommt aus der gemeinsamen Hingabe. Einander Erlebnisse erzählen führt zum Verstehen, einander verstehen führt zum Nahesein. Und plötzlich ist jeder von uns ganz und gut. Das sind geschenkte Momente, die man nicht machen, für die man nur offen sein kann.

Solche Begegnung spielt auch in der Emmausgeschichte die zentrale Rolle. Der Fremde geht nicht vorbei, er interessiert sich, öffnet sich und hört zu. Er hat keine Angst vor der Fremdheit der Wanderer, keine Angst vor ihrer Trauer. Seine Anteilnahme führt zum Verständnis und zum Erkennen. Hier ist allerdings der Punkt, in dem Edeltraud Abel andere Akzente setzt als die Emmausgeschichte. Die biblische Erzählung ist ganz aus der Sicht der Jünger geschrieben. Was der Hinzukommende wahrnimmt, bleibt im Dunkeln. Was er erlebt hat, wissen wir nicht.

Das Abelbild reflektiert unsere Erfahrung, dass jede Begleitung gegenseitig ist. Wir sind stets Führer und Geführte zugleich, wenn wir uns aufeinander einlassen. Wer im Bild wen stützt und beschützt ist durchaus und ganz bewusst unklar. Das wiederum lässt uns die Auferstehung besser verstehen.

Der Auferstandene wird erfahrbar nicht in Gestalt und Person meines Gegenübers, sondern «in between», im Zwischenraum, im Beziehungsgeschehen. Darin gibt es die Momente des Verschmelzens und Einswerdens, das aber natürlich nicht Dauer hat und zum Zustand wird, sondern uns stets wieder in unsere Eigenwelt zurückschickt, in der wir wirksam werden können.

In diesem Sinne sind wir eingeladen, uns auf die Wege eines anderen einzulassen, Einladungen anzunehmen und Rollen für einmal beiseitezulassen. Dann zählen nicht mehr Alt und Jung, Frau und Mann, Weiss und Schwarz, Arm und Reich. Es zählt allein das «Ich und Du» (Martin Buber), in dem beide Schenkende und Beschenkte sind.

Ludwig Hesse
Theologe und Autor,
war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland