Benedikt XVI. am zweitletzten Tag seines Pontifikats: Seine letzte Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom (27. Februar 2013). | © kna-bild
Benedikt XVI. am zweitletzten Tag seines Pontifikats: Seine letzte Generalaudienz auf dem Petersplatz in Rom (27. Februar 2013). | © kna-bild
12.01.2023 – Aktuell

An Benedikt XVI. werden sich die Geister noch lange scheiden

Weder als Glaubenshüter, noch als Papst oder als Papa emeritus vermochte der deutsche Theologe auf dem Petrusstuhl das Kirchenvolk zusammenzuführen

Er war der deutsche Papst, der Theologenpapst und der Papst, der zurückgetreten ist. Das Wirken von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. war in der Kirche ebenso prägend wie umstritten und wird es bleiben. Was er nie war: Ein gütiger Hirte der Gläubigen.

Für die Katholiken und Katholikinnen in der Schweiz war Benedikt XVI. ein schwieriger Kirchenfürst. Zuerst als Präfekt der Glaubenskongregation und «Cheftheologe» von Papst Johannes Paul II. von 1982 bis 2005, danach als Papst bis 2013: Für mehr als eine ganze Generation von Gläubigen und von Mitarbeitenden der Kirche bestimmte der Theologe Ratzinger, was in der katholischen Kirche möglich war und was nicht.

Spätestens seit der Erklärung «Dominus Iesus» im Jahr 2000 habe Ratzingers Theologie das römische Lehramt stärker geprägt als jeder Präfekt der Glaubenskongregation zuvor, urteilt der Kirchenhistoriker Mariano Delgado (Freiburg/Schweiz). In jenem Dokument sprach die Kongregation den protestantischen Kirchen ab, Kirchen im eigentlichen Sinn zu sein. Dieser Schwerthieb traf auch viele Schweizer Katholiken mitten ins Herz und vergiftete jahrelang manche ökumenische Begegnung.

Ein dringendes Anliegen vieler nach dem Konzil von 1962–1965 betraf die Zulassung von Verheirateten zur Priesterweihe. Noch 1970 hatte Ratzinger als Theologe eine Überprüfung der Zölibatspflicht verlangt. Doch an den Schalthebeln des Kirchenrechts war er ein kompromissloser Gegner dieser Reform, die gerade auch in der Schweizer Kirche mehr und andere Männer für den Dienst als Priester gewonnen hätte.

Im Jahr 1994 erklärte Papst Johannes Paul II. mit einem Apostolischen Schreiben die Zulassung von Frauen zum Priesteramt für alle Zeit für unmöglich. Dass Ratzinger daran beteiligt war, steht ausser Frage. Das einsame Machtwort von oben ist das Gegenteil der Synodalität, in der Papst Franziskus heute die katholische Kirche in die Zukunft führen will. Das Diskussionsverbot aus Rom überzeugte niemanden. Es hatte nur zur Folge, dass die innerkirchlichen Gräben noch tiefer, die Lager noch unversöhnlicher wurden. Das kennzeichnet die lange Ära Ratzinger generell.

Seinen bischöflichen Wahlspruch «Mitarbeiter der Wahrheit» verstand Ratzinger vor allem als «Bewahren der Tradition». Nachdem er 2005 im Alter von 78 Jahren zum Nachfolger von Papst Wojtyla gewählt worden war, zeigte sich das auch in befremdlichen Äusserlichkeiten wie übertrieben aufwendigen liturgischen Gewändern oder seinem Tick mit den roten Schuhen. Folgenreicher waren kirchenpolitische Massnahmen. Um die traditionalistischen Piusbrüder wieder zu integrieren, liess er 2007 die vom Konzil aufgegebene lateinische Messe wieder zu – ein Schritt, der 2021 von Papst Franziskus weitgehend rückgängig gemacht wurde, weil er zur Ablehnung des Konzils missbraucht worden sei. Auch rissen mehrere Entscheide und Äusserungen Benedikts Gräben zum Judentum und zum Islam auf. Das nahm er in Kauf.

Während des Pontifikats von Benedikt XVI. kam das ungeheuerliche Ausmass von sexuellen Verbrechen von Priestern gegen Kinder und Abhängige in vielen Ländern der Welt ans Licht. Es heisst, Benedikt habe hinter den Kulissen mehr gegen Täter unternommen als jeder seiner Vorgänger. Er nutzte aber die überragende Autorität seiner Ämter nie dazu, die Verantwortung der Kirche für das jahrzehntelange systematische Vertuschen gegenüber allen Gläubigen wie auch vor der ganzen Gesellschaft offen einzugestehen und dieser Praxis glaubwürdig den Kampf anzusagen.

Als Bollwerk der Tradition fand Papst Benedikt XVI. zahlreiche begeisterte Bewunderer wie auch scharfe Kritiker. Sie alle überrumpelte er aber im Februar 2013 komplett mit seinem souveränen Entscheid für den Amtsverzicht im Alter von 86 Jahren. Einen solchen Schritt hatte ausser dem heiligen Einsiedler Pietro da Morrone (Coelestin V.) im Jahr 1294 noch kein Papst getan. Benedikt begründete ihn damit, dass er infolge seines Alters nicht mehr die nötigen Kräfte für das Amt habe.

Fast zehn Jahre führte Benedikt seither den Titel eines Papa emeritus. Er blieb im Vatikan und zeigte sich stets in der weissen Papstsoutane, er empfing Besuche und trat in mancher Form an die Öffentlichkeit. Als nach der Amazonassynode im Oktober 2019 neue Hoffnungen auf Ausnahmen vom Zölibat keimten, griff Benedikt mit einem Beitrag in einer Buchpublikation der Konservativen in die laufende Debatte ein. Das zeigt, dass er auch als emeritierter Papst Einfluss nahm. Der Kreis seiner Schüler und Anhänger wird über seinen Tod hinaus ein Machtfaktor in der Kirche bleiben.

Obwohl unter seinem Nachfolger Franziskus manche Blockaden der Ratzingerzeit weiter bestehen, springt der Unterschied im Stil der beiden zehn Jahre lang nebeneinander im Vatikan lebenden Päpste ins Auge. Bei Franziskus spürt man oft die Haltung des Seelsorgers, Interesse und Zuneigung zu den Menschen in ihrer Unvollkommenheit, einen einfachen Zugang zu ihren Schwierigkeiten mit dem Glauben und der Kirche. Das, ich gebe es zu, vermisste ich all die Jahre bei Benedikt.

Christian von Arx

 

Stationen auf dem Weg vom Konzilstheologen zum emeritierten Papst

16. April 1927: Geburt von Joseph Ratzinger in Marktl am Inn (Oberbayern).

1951: Priesterweihe, anschliessend ein Jahr als Kaplan und Religionslehrer.

1952–1957: Dozent am Priesterseminar in Freising, Dissertation und Habilitation an der Universität München.

1958–1977: Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik in Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Autor zahlreicher theologischer Publikationen, darunter «Einführung in das Christentum» (1968).

1962–1965: Teilnahme als Berater am Zweiten Vatikanischen Konzil, 1963 von Papst Paul VI. zum Konzilstheologen ernannt.

1977–1982: Erzbischof von München und Freising, Wahlspruch: «Mitarbeiter der Wahrheit».

1977–2005: Kardinal

1982–2005: Präfekt der Glaubenskongregation im Vatikan, ernannt von Papst Johannes Paul II.

2005–2013: Pontifikat mit dem Papstnamen Benedikt XVI., Wahl am 19. April 2005. In seiner Amtszeit schrieb er das dreibändige Werk «Jesus von Nazareth» (2007–2012).

11. Februar 2013: Ankündigung des Rücktritts auf den 28. Februar 2013: Infolge seines Alters reichten seine Kräfte nicht mehr aus für das Amt. Erster freiwilliger Amtsverzicht eines Papstes seit Coelestin V. 1294. Benedikt führt den Titel Papa emeritus.

31. Dezember 2022: Benedikt XVI. stirbt 95-jährig im Kloster Mater Ecclesiae im Vatikan. cva

 

Joseph Ratzinger mit 38 Jahren als Konzilstheologe im Vatikan (14. September 1965). | © Hans Knapp/www.kna.de
So wirkte er im Alter von 80 Jahren als Papst: Benedikt XVI. in Brasilien mit Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Mai 2007). | © Fabio Pozzebom/ABr, CC BY 3.0 BR
Nach dem Rücktritt gab es erstmals Bilder eines amtierenden mit einem emeritierten Papst: Franziskus und Benedikt XVI. in den Vatikanischen Gärten (5. Juli 2013). | © Mondarte/wikimedia commons