Geburt im Stall: Für Gott ist der Kern des Menschseins das nackte Leben (Bartolomé Esteban Murillo, «Die Anbetung der Hirten», um 1650). | © wikimedia/Museo Nacional del Prado
Geburt im Stall: Für Gott ist der Kern des Menschseins das nackte Leben (Bartolomé Esteban Murillo, «Die Anbetung der Hirten», um 1650). | © wikimedia/Museo Nacional del Prado
15.12.2022 – Impuls

Lukas 2,6–7

Es geschah, als sie in Betlehem waren, da erfüllten sich die Tage, dass sie gebären sollte, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.

Einheitsübersetzung 2016

 

Ein Gott mit Stallgeruch – oder: Wem gehört mein Leben?

Ein Lesezirkel im Pastoralraum Birstal hat sich kürzlich in mehreren Treffen mit dem Theaterstück «Gott» von Ferdinand von Schirach auseinandergesetzt. Da dreht sich alles um die Frage: Darf sich ein Mensch aus eigenen Stücken das Leben nehmen, wenn er für sich keinen Lebenssinn mehr entdecken kann? Und sollen andere ihm bei diesem Schritt Hilfestellung leisten dürfen, ihm diesen Schritt ermöglichen? Argumente dafür und dagegen werden ausgebreitet und achtsam abgewogen, im Theaterstück und in unseren spannenden Gesprächsrunden.

Vor allem aber werden die verschiedenen Argumente behutsam hin und her bewegt in den Herzen derer, die sich nicht «einfach» auf die Einheitsregeln von Gesetzen und Dogmen abstützen, sondern dem Leben in seiner Vielfalt gerecht werden möchten. Sie haben die Unterschiedlichkeiten der je eigenen Lebenserfahrungen, der Lebenshoffnung und auch der Lebensenttäuschungen vor Augen. Sie möchten der einfachen Tatsache Rechnung tragen, dass letztlich nichts so individuell ist wie das Leben selbst und die persönlichen Kräfte und Fähigkeiten, es zu gestalten von Geburt bis zum Tod.

Dabei sind sie, Geburt und Tod, die einzigen gemeinsamen Eckpunkte jedes Lebens, die einzigen, die alle Menschen miteinander teilen. In den Lebensjahren dazwischen aber lebt jeder sein Leben, bin ich ich und bist du du. Was dem einen Lebensfreude bereitet, lässt den anderen unberührt, und was ich aushalten und tragen kann, kann dich erdrücken. Die uralte Weisheit der Indianer warnt deshalb davor zu urteilen, wenn man nicht selbst den Weg in den Mokassins des anderen gegangen ist.

Nun feiern wir in diesen Tagen, dass Gott selbst die menschlichen Mokassins anzieht, dass er so einer wird wie wir, ein Mensch mit eigener und einzigartiger Lebensgeschichte. Die Notunterkunft im Stall, die Gesellschaft der Hirten und der Kniefall der königlichen Geschenkträger lassen erahnen, dass für Gott der Kern des Menschseins das nackte Leben ist. Für ihn zählt nicht die Herkunft und nicht der Stand, sondern die schnörkellose Erfahrung, dass dieses Leben unser ist, persönlich und individuell.

Wie Gott sich auf den Lebensweg machen wird, macht deutlich, dass dieses einzigartige Leben ganz uns Menschen gehört, dass jeder und jede ihr Leben ausfüllen muss und darf, ihren oder seinen Weg gehen muss: Verbindlich eingewoben ins Netz, das alles Leben verbindet, aber doch frei, in Verantwortung die eigenen Schritte zu wählen. Gott wird Spuren legen und Wege aufzeigen, die zu erfülltem Leben führen. Er wird Begleiter einladen und wird sich selbst zum Begleiter anbieten, aber er wird das Geschenk der Freiheit und Einzigartigkeit jedes Einzelnen nicht antasten. Das macht das Leben jedes Menschen zwar verantwortungsschwer, schenkt ihm jedoch zugleich jene grossartige Würde, die er uns in unsere Krippen gelegt hat.

Felix Terrier, Priester im Seelsorgeverband Angenstein