Mitautor Joseph Thali (Allschwil) hielt sein Referat an der Vernissage vor einem Porträtbild von Patrice, dem er 2008 in einem Waisenhaus im Osten Kongos begegnet war. | © Peter Bernd
Mitautor Joseph Thali (Allschwil) hielt sein Referat an der Vernissage vor einem Porträtbild von Patrice, dem er 2008 in einem Waisenhaus im Osten Kongos begegnet war. | © Peter Bernd
21.02.2019 – Aktuell

Ein aufregendes Stück Schweizer Theologiegeschichte

Die befreiungstheologische Gruppe um Urs Eigenmann dokumentiert ihr Werden und Wirken

1982 entstand im Umfeld der Uni Fribourg die bis heute aktive befreiungstheologische Gruppe La Roche/Collège de Brousse. Jetzt beleuchtet sie in einem Buch ihre Geschichte und ihre Theologie. Vernissage war am 9. Februar in Füllinsdorf.

 

La Roche ist ein Bauerndorf am Greyerzersee im Kanton Freiburg. Dort traf sich im Oktober 1982 die Basisgruppe Theologie der Uni Fribourg zu einer studentischen Reflexionswoche. Mit dabei waren Mitglieder der Gruppe Christen für den Sozialismus aus Münster/Westfalen. Sie beugten sich über einen Vortrag, den der deutsche Theologe Kuno Füssel, Schüler der Professoren Karl Rahner und Johann Baptist Metz, am 18. Februar 1982 in Fribourg gehalten hatte: «Die bürgerliche Gefangenschaft der Theologie». Diesen Vortrag bezeichnet Urs Eigenmann, damals Assistent am Pastoraltheologischen Institut in Fribourg, im Rückblick als Gründungstext der Gruppe La Roche/Collège de Brousse. In dem Buch «Der himmlische Kern des Irdischen» ist Füssels Vortrag jetzt erstmals publiziert.

Die Gruppe entwickelte grosse Energie und hatte Ausdauer. Ende 1982 entstand aus ihrem Umkreis der Genossenschaftsverlag Edition Exodus mit dem Ziel, befreiungstheologische Literatur herauszubringen. 1983 bis 1985 konnte Kuno Füssel an den Fortbildungskursen der Deutschschweizer Bistümer referieren. Daraus entstand neben den studentischen Treffen eine zweite Reflexionsgruppe von Seelsorgenden.

Beide Netzwerke bestehen bis heute, das erste unter dem Namen Internationale Ökumenische Vereinigung La Roche, das zweite nennt sich Collège de Brousse («Buschuniversität»). Die Teilnehmenden aus der Schweiz und Deutschland befassen sich mit Fragestellungen aus Politik, Ökonomie, Philosophie und Theologie. Die Gruppe ist ein Kind des Aufbruchs von 1968 und war während der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ein oppositioneller Raum für eine kritische Minderheit.

 

Das Reich Gottes auf der Erde

Die Theologie der Gruppe La Roche/Collège de Brousse orientiert sich am biblisch bezeugten ursprünglichen Christentum. Dieses sieht sie als einen Humanismus der Praxis, für den die Armen und deren Schicksal zentral sind. Das prophetisch-messianische Christentum der Anfänge habe sich auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde ausgerichtet. Diese Orientierung habe das Christentum verloren, als im Jahr 380 aus der bis dahin diskriminierten und verfolgten christlichen Reich-Gottes-Bewegung die römische Reichskirche wurde. Diese historische Wende habe nicht die Christianisierung des Imperiums, sondern die Imperialisierung des Christentums bedeutet.

Das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965 habe erstmals wieder im Reich Gottes die zentrale Bezugsgrösse für die Kirche erkannt. Das hätten die lateinamerikanischen Theologen der Befreiung aufgenommen.

 

Die Beiträge des Buches

Die Geschichte der Gruppe dokumentiert im Buch ihr Hauptinitiant Urs Eigenmann (*1946). Zudem bietet er im Hauptbeitrag «Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit als himmlischer Kern des Irdischen» eine theoretische Fundierung der Theologie vom Reich Gottes. Die anschauliche Ergänzung, was der Austausch in der Gruppe für die Berufspraxis einer Teilnehmerin bedeutet, liefert Maria Klemm-Herbers (*1949), seit 40 Jahren Pastoralassistentin in Füllinsdorf, in ihrem Beitrag «Autonom – parteilich – solidarisch – christlich».

Von Kuno Füssel (*1941) stammt der Beitrag «Marx und die Bibel. Eine längst anstehende Bestandsaufnahme». Ebenfalls auf Karl Marx bezieht sich der Vordenker der Gruppe, der in Lateinamerika wirkende deutsche Ökonom und Theologe Franz Hinkelammert (*1931) in seinem Text «Der Mensch als höchstes Wesen für den Menschen. Jenseits der Ethik der neoliberalen Religion des Marktes». Im Beitrag «Der Thermidor des Christentums. Sozialgeschichtliche Aspekte seiner frühen Entwicklung» setzt sich Pfarrer Walter Bochsler (*1951), Präsident des Vereins Collège de Brousse und früher in den Pfarreien Binningen, Birsfelden, Allschwil und Pfeffingen tätig, mit der Verkehrung von Jesu Lehre in der Antike auseinander und stellt die Frage nach dem Weg zurück zu den Anfängen, für den er Papst Franziskus als «Fürsprecher und Beistand» sieht.

Wie die Befreiungstheologie in der pastoralen Praxis umgesetzt werden kann, zeigt der Beitrag von Diakon Joseph Thali-Kernen (*1950), früher Jugendseelsorger in St. Josef in Basel und Gemeindeleiter in Rothrist, Frick und Allschwil-Schönenbuch, heute Vorstandsmitglied von Caritas Schweiz und Landeskirchenrat von Baselland. Als Beispiele nennt er die Gestaltung der Eucharistie nach dem Vorbild des Gleichnisses vom Festmahl (Lk 14,15–24), konkrete Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im Kongo oder die Rückgewinnung des Brauchtums wie des Dreikönigskuchens oder des St. Nikolaus.

An der Buchvernissage vom 9. Februar in der Pfarrei Dreikönig in Füllinsdorf wirkten mit Ausnahme des in Costa Rica lebenden Franz Hinkelammert alle Autoren mit, Urs Eigenmann auch als Chefkoch des Vernissagemenüs. Das Buch der in der Nordwestschweiz stark verankerten Gruppe wurde von der Römisch-katholischen Landeskirche Baselland gefördert.

Christian von Arx

 

Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis. Hrsg. von Urs Eigenmann, Kuno Füssel, Franz J. Hinkelammert. Edition Exodus, Luzern, 2019.