Beatushöhlen am Thunersee: Als Zufluchts-, Schutz- oder Rückzugsort erinnern sie an unser Bedürfnis nach Geborgenheit. | © Robert Büchel/Alamy Stockfoto
Beatushöhlen am Thunersee: Als Zufluchts-, Schutz- oder Rückzugsort erinnern sie an unser Bedürfnis nach Geborgenheit. | © Robert Büchel/Alamy Stockfoto
04.05.2023 – Impuls

Psalm 91,12.1113

Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der ruht im Schatten des Allmächtigen. Ich sage zum Herrn: Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue.

Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuss nicht an einen Stein stösst; du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf junge Löwen und Drachen.

Einheitsübersetzung 2016

 

Drachen und Höhle – auch in meinem Leben?

Hoch über dem Thunersee liegen die St.-Beatus-Höhlen: ein Jahrmillionen altes Naturwunder, das immer wieder neu seine Besucher in Staunen versetzt und zum Wallfahrtsziel von Tausenden von Naturfreunden geworden ist.

Der Legende nach dienten die Tropfsteinhöhlen als Unterschlupf für den heiligen Beatus. Allerdings musste er zunächst einen furchterregenden Drachen vertreiben, der dort sein Unwesen trieb und den Menschen Angst einflösste. Er liess sich nicht einschüchtern und trat dem Untier mit Kraft und Gottesglauben entgegen. Darauf stürzte der Drache zischend und fauchend in den Thunersee und ist seither verschwunden. Die Höhle wurde dann zur Zuflucht- und Wohnstätte des heiligen Beatus. Und noch heute strahlen diese Höhlen mit ihren Innenschluchten, imposanten Hallen und Wasserfällen eine besondere Kraft aus, die viele Menschen anzieht.

Eine Geschichte – eine Legende – die im Spannungsfeld der beiden Pole Bedrohung (durch den Drachen) und Geborgenheit (in der Höhle und im Glauben) spielt. Der Drache kann für Verschiedenes stehen: für Naturgewalten, für das Böse, für innere Bedrohungen, Sorgen oder Ängste. Die Höhle, als Zufluchts-, Schutz- oder Rückzugsort, erinnert uns an unser Bedürfnis nach Geborgenheit.

In unserer modernen Welt mit ihrem «Höher-Schneller-Besser» wächst bei vielen Menschen der tiefe Wunsch nach Ruhe und Erholung, nach Angenommensein und Sicherheit. Wir haben ein lebensnotwendiges Bedürfnis nach Geborgenheit. Grundgelegt wird dieses Lebensgefühl bereits nach der Zeugung des Menschen im Mutterleib. Hier waren wir warm und sicher aufgehoben, rundum versorgt mit allem Nötigen. Ein Leben lang wird die Sehnsucht nach dieser Geborgenheit in uns lebendig bleiben.

Dem Bedürfnis nach Geborgenheit steht aber ein anderes diametral gegenüber: die Entdeckungsfreude und Neugier des Kindes. Es will die Welt entdecken und sich in die Welt hinauswagen und sich in der Welt für etwas einsetzen. Auch menschheitsgeschichtlich war der Mensch irgendwann gezwungen, die schützende Höhle zu verlassen und um des Überlebens willen auf gefährliche Nahrungssuche zu gehen.

Und sogar der christliche Glaube hat diese doppelte Grundstruktur: einen tröstend-schützenden und zugleich herausrufend-herausfordernden Charakter. Gesunder Glaube weicht der Angst nicht aus, weiss sich aber von Gott darin begleitet. Diese beiden Pole sind also tief im Menschen verankert.

Die hohe Kunst des Lebens besteht darin, eine gute Balance zu finden zwischen Wagnis und Sicherheit, zwischen Geborgenheit in Gott und Mut, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen – im Vertrauen, dass Er uns begleitet.

Nadia Miriam Keller, Theologin, arbeitet als Spitalseelsorgerin am St. Claraspital in Basel