09.09.2021 – Editorial

Der Weg und das Ziel

Meine erste Gletscherüberquerung hätte gleich beim Start mit einem Drama enden können. Was in meinen Kinderaugen wie ein bequemer Pfad aussah, war der Anfang einer Spalte. Dank der raschen Intervention meiner Eltern landete ich auf dem richtigen Weg, und so ging es dann über den mächtigen Eisstrom des Gornergletschers in Richtung Monte-Rosa-Hütte, unserem Ziel.

Es war kein klar definierter Weg, der uns dorthin führte, sondern eine mit Steinhäufchen markierte Route. Immer wieder mussten wir Spalten und Bäche überwinden, und auch die Übergänge von Eis zu Geröll oder Fels und umgekehrt stellte uns vor Herausforderungen. Was damals schon eine anforderungsreiche Tour war, ist heute ein Vorhaben, das man nur mit hochalpiner Ausrüstung und sehr guter Ausdauer in Angriff nehmen sollte.

«Die Übergänge auf den Gletscher sowie die Passagen auf dem Gletscher verändern sich ständig und sind oft sehr heikel», heisst es auf der Homepage der Hütte. Steigeisen sind Pflicht, Stöcke, Eispickel und Seil werden als hilfreich empfohlen. Das Ziel, die innovative neue Hütte, befindet sich oberhalb des alten Standorts, und der Weg ist wegen des starken Rückgangs des Gletschers nicht nur schwieriger, sondern auch länger geworden.

In heiklem Gelände unterwegs ist auch die römisch-katholische Kirche. Sie hat sich auf den «synodalen Weg» begeben. Das Ziel: eine Erneuerung der Kirche. Das Ringen um Reformen in einem sich stetig wandelnden Umfeld hat die Geschichte der Kirche geprägt, mit schmerzlichen Folgen wie Spaltungen und einer zunehmenden Zahl von Kirchenaustritten. Unter den Verbliebenen herrscht keineswegs Einigkeit, in Fragen, die seit langer Zeit kontrovers diskutiert werden, geht es nicht vorwärts.

Die Tour beginnt in wenigen Wochen: Am 17. Oktober startet die weltweite Befragung, deren Resultate an der Bischofssynode 2023 in Rom diskutiert werden sollen. Schon vor Monaten war eines klar: Der synodale Weg wird sehr unterschiedlich ausfallen, und es gibt keine Erfolgsgarantie. Das hängt unter anderem schon damit zusammen, dass die Vorstellungen darüber, wie die erneuerte Kirche aussehen soll, weit auseinandergehen.

Man muss als Gruppe auf einer Wanderung nicht jeden Meter gemeinsam zurücklegen, man kann sogar getrennt auf unterschiedlichen Routen unterwegs sein und erst am Schluss wieder zusammenkommen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass man sich darüber einig wird, wo genau das Ziel ist.

Regula Vogt-Kohler