Die Gartentreppe bei der ehemaligen Abtei Murbach im Elsass. | ©Felix Terrier
Die Gartentreppe bei der ehemaligen Abtei Murbach im Elsass. | ©Felix Terrier
04.04.2024 – Impuls

Johannes 3,7-8

Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von oben geboren werden. Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weisst aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Einheitsübersetzung 2016

 

Der Blick in die Weite

Es wird ein «Impuls» für das Pfarrblatt von mir erwartet. Dafür habe ich mich mit meinem Computer in ein kleines Chalet im Jura zurückgezogen, gönne mir ein paar Tage, um mich von diesem Rückzug aufs Land inspirieren zu lassen. So sitze ich also im kleinen Chalet am Waldrand, schaue zum Fenster hinaus und suche in meinem Kopf nach einem geeigneten Impulsthema. Schwierig, denn gerade hat eine kleine Holztreppe meine Kreativität ganz in Beschlag genommen. Es sind zwar nur gerade sechs Stufen, die zuhause einen kleinen Schacht im Keller begehbar machen sollen, keine grosse Sache also, aber meine Gedanken kreisen darum, wie ich das am besten angehen soll. Sie kreisen um Konstruktionsvarianten, um Berechnungen, um optimale Platznutzung und verhindern so das Eintauchen in spirituelle Tiefen, … kein Impulsgedanke regt sich weit und breit.

Ohne Inspiration schweift mein Blick aus dem Fenster. Jenseits des Tales vor mir mache ich auf der übernächsten Hügelkette im Dunst den Aussichtsturm auf dem Moron aus. Es ist nur eine schwache Silhouette in der Ferne, die die Baumspitzen überragt, aber sie weckt in mir die Bilder dieses eleganten Turms des Stararchitekten Mario Botta. Vor zwei Jahren war ich mit einer Pilgergruppe die 207 Stufen des Turms hinaufgestiegen und hatte den wunderbaren Blick in die Weite genossen und dabei auch das kleine Chalet in der Ferne ausgemacht, in dem ich heute sitze. Und wir hatten natürlich auch die wirklich aussergewöhnliche Steintreppe bewundert, die sich in unerhörter Leichtigkeit um den Turm herum in die Höhe windet und den Besucherinnen und Besuchern den fantastischen Weitblick über die Jurahügel ermöglicht. Wenige Tage darauf brachen mitten in der Nacht unvermittelt die Stufen ab und stürzten in die Tiefe. Seither kann der Turm nur noch von unten und als Silhouette aus der Ferne betrachtet werden, kein mühsames Hinaufsteigen mehr und kein herzöffnender, belohnender Blick mehr in die Weite.

Ja, Treppen sind wichtig, egal, ob sie technisch ausgeklügelt, künstlerisch grossartig oder schlicht und funktional sind. Egal, ob sie felsenfest wirken oder wackelig und unsicher sind. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie es den Menschen, die sie begehen, ermöglichen, neue Ebenen, neue Höhen und Tiefen, neue Weiten und auch neue Perspektiven im Leben zu entdecken. Einige Menschen steigen diese Treppen ängstlich und zaghaft empor, andere neugierig, vertrauensvoll und forsch. Allen aber erschliessen die Stufen neue Räume und Höhen, sie bringen Menschen auf neue Ebenen, verbinden sie, überwinden Trennendes und ermöglichen ungeahnte Ein- und Weitblicke. Treppen bauen macht schon Sinn, scheint mir … Übrigens: Mein Treppenprojekt im Keller ist fertig. Jetzt haben meine Gedanken wieder Platz für spirituelle Tiefen und Höhen. Darauf freue ich mich.

Felix Terrier
Leiter Bereich Kirche im Kloster Dornach