Adrian Loretan. | © zVg.
Adrian Loretan. | © zVg.
30.11.2023 – Aktuell

Den ethischen Anspruch in Rechtstexte umsetzen

Im Interview spricht Adrian Loretan über Menschenrechte in der katholischen Kirche und im Allgemeinen

Vor 75 Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Seitdem gibt es ein Instrument gegen Machtmissbrauch, auch in der Kirche, sagt Adrian Loretan.

 

Menschenwürde und Menschenrechte fanden auch Einzug in Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Welche Punkte waren neu für die katholische Kirche?

Adrian Loretan: Papst Johannes XXIII. beginnt mitten im Konzil 1963 menschenrechtlich zu argumentieren in der Enzyklika Pacem in terris. Dieser Wende schliesst sich das Konzil an. Es gibt «in der Kirche keine Ungleichheit aufgrund von […] sozialer Stellung oder Geschlecht» (LG 32). Das Konzil verneint so ausdrücklich jede Theorie oder Praxis, «die zwischen Mensch und Mensch […] bezüglich der Menschenwürde und der daraus fliessenden Rechte einen Unterschied macht […], weil dies dem Geist Christi widerspricht» (NA 5). Daher muss «jede Form einer Diskriminierung […] beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht» (GS 29). Dies ist keine soziologische Beschreibung der Wirklichkeit, sondern eine normative Sicht, wie es sein müsste, aber nicht ist.

 

Hat die katholische Kirche Schritte unternommen, damit die Rechte, die sie während des Zweiten Vatikanischen Konzils formuliert hat, auch eingefordert werden können?

Der Theologe Karl Rahner hat mich motiviert, Kirchenrechtswissenschaft zu studieren. Er vertritt die Auffassung, dass das Konzil zur Makulatur verkommt, wenn diese Konzilstexte nicht in verbindliches Verfassungsrecht der Kirche übersetzt werden. Papst Paul VI. hatte dieses Anliegen aufgenommen in einem Grundrechtskatalog der kirchlichen Verfassung (Lex Ecclesiae Fundamentalis), die aber von Johannes Paul II. nicht in Kraft gesetzt wurde.
Die vom Konzil beschriebene Würde der Person (DH 1), die Gleichstellung der Gläubigen (LG 32), das Diskriminierungsverbot (GS 29), die Religionsfreiheit (DH) und die menschenrechtliche Argumentation des obersten Lehramtes bekommen erst als rechtliche Grössen ihre Verbindlichkeit. Menschenrechte sind ja ein Instrument gegen den Machtmissbrauch in der Kirche, wie es die erste Bischofssynode 1967 sehr klar formuliert hat.

 

Während die katholische Kirche nach aussen eine Verfechterin der Menschenwürde ist, scheint sie kirchenintern einen anderen Massstab zu haben. Wie begründet sie diesen ungleichen Umgang mit den Grundrechten?

Die Kirche will die Grundsätze der sozialen Ordnung verkündigen, «insoweit die Grundrechte der menschlichen Person […] dies erfordern» (c. 747 § 2). Genau an diesen Grundrechten, die die Kirche nach aussen verkündet in ihrer Soziallehre, wird sie nun nach innen gemessen. Denn man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken.

Solange das geltende Recht der Kirche von einem schrankenlosen Vorbehalt zugunsten der kirchlichen Autorität ausgeht, kann von Grundrechten in einem strikten Sinn in der Kirche nicht die Rede sein. Deren Wesen besteht darin, dass sie der Ausübung des Amtes Schranken setzt. Genau diese schrankenlose Autorität führt zum Machtmissbrauch. Ohne garantierte Menschenrechte können sich die Opfer sexueller Gewalt nicht gegen die Amtspersonen wehren.

 

75 Jahre nach der Verabschiedung der AEMR werden noch immer die Grundrechte unsäglich vieler Menschen beschnitten. Was müsste geschehen, damit die Einhaltung der Menschenrechte zur Selbstverständlichkeit mutierte?

Menschenrechte sind eine Herausforderung. Wenn sie dann selbstverständlich geworden sind, dann ist zu überprüfen, ob sie schon im Reich Gottes angekommen sind. Der Anwalt der Ärmsten, Christus, meint: «Was ihr für eine/n meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan.» (Mt 25,40). Kann man das Anliegen der Menschenrechte besser formulieren? Ich glaube schon. Die Folter der sexuellen Gewalt wird erst abgeschafft, wenn wir im Opfer sexueller Gewalt, auch einen Menschen, also eine Person erkennen, Christus erkennen (Mt 25,40), der eine «menschenwürdige» Behandlung verdient. Menschen sollen sich gegenseitig als Gleiche, als Ebenbilder Gottes (Gen 1,26), anerkennen und gleichzeitig in ihrer Andersheit respektieren, wie die Goldene Regel der Bergpredigt Jesu (Mt 7,12), rechtlich übersetzt im Decretum Gratiani (1140), es schon seit zwei Jahrtausenden fordert.

 

Wie kann die AEMR umgesetzt werden?

Der ethische Anspruch muss in Rechtstexten umgesetzt werden. Die Menschenwürde und die daraus fliessenden Menschenrechte, auch der Kinder, wird z.B. durch die Ratifizierung der Kinderrechtskonvention durch den Heiligen Stuhl völkerrechtlich unterstrichen. Aber ohne rechtliche Übersetzung ins geltende Recht der Kirche, einer Institution von 1,4 Milliarden Menschen, bleibt diese Völkerrechtskonvention ebenfalls Makulatur. Auch der internationale Überwachungsausschuss der UN-Kinderrechtskonvention weist die Kirche immer wieder darauf hin, dass sie die Kinderrechte noch nicht in ihr Verfassungsrecht aufgenommen hat, obwohl der Heilige Stuhl die Kinderrechtskonvention ratifiziert hat. An der UN-Kinderrechtstagung vom 12./13. März 2024 an der Universität Luzern wird die ehemalige Staatspräsidentin Irlands und Kinderrechtsexpertin, Mary McAleese, die Rechte der Kinder einfordern, z.B. das Recht auf gewaltfreie Erziehung (Art 19 der UN-Kinderrechtskonvention).

Dieses Interview wurde schriftlich von Marianne Bolt geführt. Das vollständige Interview ist im Pfarreiblatt 50/51 des Kantons Zug zu finden.

___________________________________

Erläuterung der Abkürzungen:
LG = Lumen gentium  (Dogmatische Konstitution der Kirche)
NA = Nostra aetate (Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen)
GS = Gaudium et spes (Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute)
DH = Dignitatis humanae (Erklärung über die Religionsfreiheit)
c. 747 § 2= Artikel 2 des Codex des Kanonischen Rechtes