30.11.2023 – Editorial

Das Harte unterliegt

«Als er Siebzig war und war gebrechlich
Drängte es den Lehrer doch nach Ruh.
Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich
Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.
Und er gürtete den Schuh.»

So lässt Bertolt Brecht seine «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration» beginnen. Auf einem Bergpass an der Landesgrenze wird der alte Philosoph auf Wertsachen abgeklopft. Als der Zöllner erfährt, was der Beruf des Reisenden war, fragt er nach: «Hat er was rausgekriegt?» Und erhält zur Antwort: «Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.»

Auf die Bitte des gewitzten Grenzers schreibt Laotse seine Weisheit innert sieben Tagen auf und hinterlässt ihm das Büchlein. Für mich erfüllt der Zöllner hier die Aufgabe eines Journalisten: Aufmerksam zu sein für Menschen, die etwas zu sagen haben, und ihre Stimme hörbar zu machen.

Hören wir also hin, welchen Spruch des Laotse uns Brecht 1938, ein Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg, vermittelt: Das weiche Wasser ist stärker als der mächtige Stein – «du verstehst, das Harte unterliegt». Da hört mein Ohr die Bergpredigt mit, wie sie Matthäus – von Beruf Zöllner! – für uns aufgeschrieben hat: Selig die Sanftmütigen; selig die Barmherzigen; selig, die Frieden stiften.

Mit diesen Worten vom Gelben Fluss und aus Galiläa darf ich mich nach gut sechs Jahren bei «Kirche heute» von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, verabschieden. Meine Bitte: Bleiben Sie mit meinen Nachfolgerinnen im Gespräch. Machen Sie sie aufmerksam auf kostbare Stimmen. Und hören Sie ihnen zu.

Christian von Arx