28.07.2022 – Editorial

Bedrohte Freiheit

Dieses Jahr hat uns vor Augen geführt, wie rasch auch in Europa Freiheiten verloren sind, auf die nach unserem Verständnis alle Menschen Anspruch haben. Als Journalist denke ich zuerst an die Meinungsfreiheit. Ich habe den Eindruck, dass sie so etwas wie eine Voraussetzung für viele andere Freiheiten ist.

Kritik und freie Debatten begrenzen die Macht der Mächtigen. Davor fürchten sich Diktatoren und alle, die versteckte Absichten haben. In Russland wurde die freie Meinungsäusserung in den vergangenen Jahren Schritt um Schritt verboten und immer härter verfolgt. Heute ist klar: Das gehörte zu den Vorbereitungen des Kriegs gegen die Ukraine.

Es ist von grosser Bedeutung, dass Menschen trotzdem sagen, was sie denken. Ein Beispiel gaben Jelena Kotjonotschkina und Alexei Gorinow. Auf einer Sitzung des Bezirksrats eines Moskauer Stadtbezirks Mitte März hielten sie fest, dass die russische Armee in der Ukraine täglich Kinder tötet, und forderten die sofortige Beendigung des Kriegs. Das dulden die Machthaber nicht. Gorinow wurde zu sieben Jahren Strafkolonie verurteilt. Seiner Ratskollegin gelang es, ausser Landes zu fliehen.

Bei uns mögen die Bedrohungen weniger offensichtlich sein. Umso mehr gilt: Bleiben wir aufmerksam, wenn Meinungen zum Schweigen gebracht werden sollen – ganz besonders dann, wenn wir sie nicht teilen. Wo die Meinungsfreiheit beschnitten wird, da schwinden auch andere Freiheiten. Und unsere Freiheiten sind das, was wir am 1. August zu feiern haben.

Christian von Arx