Welche Bedeutung hat es, dass genau Bernadette die Erscheinung hatte? Und welche Bedeutung kann das allgemein für Mädchen und Frauen haben? | © Leonie Wollensack/KI-generiert mit Adobe Firefly
Welche Bedeutung hat es, dass genau Bernadette die Erscheinung hatte? Und welche Bedeutung kann das allgemein für Mädchen und Frauen haben? | © Leonie Wollensack/KI-generiert mit Adobe Firefly
02.05.2024 – Hintergrund

Lourdes – Eine Begegnung unter Frauen

Wallfahrtsorte als weibliche Kraftorte erfahren

Einen neuen Blick auf Gottes- und Marienbilder werfen, bei der Bibelauslegung, der Glaubenslehre und der praktischen Theologie genauer hinschauen und bestehende, diskriminierende Elemente des Glaubens kritisch anfragen – darum geht es Monika Hungerbühler. Sie ist feministische Theologin und Seelsorgerin und bietet eine Lourdeswallfahrt an, die den Blick auf die weiblichen Protagonistinnen dieser Orte lenkt: Maria und Bernadette Soubirou.

Lourdes – der Wallfahrtsort der Kranken.
Ein Ort mit einer Fülle an Heilritualen. Es wird gemeinsam geklagt und gesungen, die Kranken werden gesegnet und tauchen in die Quelle hinab. Dieses Bild haben wohl die meisten Menschen im Kopf, wenn sie an Lourdes denken.

Lourdes – der Kraftort für Mädchen und Frauen.
Das ist für viele sicher ein neues Bild. Es ist das Bild, das Monika Hungerbühler ins Zentrum stellt mit der feministischen Wallfahrt, die sie dieses Jahr bereits zum zweiten Mal anbietet. «Feministische Wallfahrt» – Was hat man sich darunter vorzustellen?

Neue Zugänge zu Bernadette und Maria

Hungerbühler war sich lange sicher: Nach Lourdes würde sie nie fahren. Mit dieser Form der Marienfrömmigkeit konnte sie nichts anfangen. Doch diese Einstellung änderte sich im Jahr 2008. Anlässlich des 150-Jahr-Jubiläums der ersten Erscheinung in Lourdes hörte sie ein Interview im SRF, bei dem die Soziologin und analytische Psychotherapeutin Dr. Ursula Bernauer ihren Blick auf Bernadette Soubirou richtete; auf das Mädchen, das die Erscheinungen in Lourdes hatte. «Dieses Interview hat für mich eine ganz grosse Tür geöffnet, hin zu Bernadette, hin zu dem, was damals passiert sein könnte in Lourdes und darüber hinaus hin zu einem neuen Bild von Maria», erklärt Hungerbühler. In den Jahren 2015 und 2017 war sie als geistliche Begleiterin bei Lourdeswallfahrten mit dabei und brachte ihren Input zum Thema bei Impulsen und in Gottesdiensten ein. 2022 schliesslich bot sie zum ersten Mal eine ganze Wallfahrt speziell unter diesem Blickwinkel an.

Während der feministisch-theologischen Wallfahrt teilt Hungerbühler ihre besondere Perspektive auf das Geschehen, auf Bernadette und auch auf Maria mit ihren Mitreisenden. Am Anfang dessen, was den Wallfahrtsort Lourdes heute ausmacht, steht ein ungebildetes, armes, krankes pyrenäisches Bauernmädchen, dem eine weibliche Gestalt erscheint. Bernadette spielt heute an diesem Ort jedoch nur noch eine verschwindende Rolle. Hungerbühler schaut hier mit dem feministisch-theologischen Blick genauer hin: Wer war diese 14-jährige Jugendliche? Welche Bedeutung hat es, dass genau Bernadette diese Erscheinung hatte? Und welche Bedeutung kann das allgemein für Mädchen an der Schwelle zum Frausein haben? Auch das Marienbild an diesem Ort – und generell – wird von ihr kritisch beleuchtet. Sie möchte die dogmatisierte Maria ihrer Dogmen, also der lehramtlichen Glaubenssätze, entkleiden, auf Grundlage der biblischen Zeugnisse, und fragt: Um wen handelt es sich bei Maria? Inwieweit hat sie auch die Position beziehungsweise Funktion von antiken Göttinnen übernommen? «Es geht um Wiederaneignung von Tradition, es geht um Ermächtigung von Frauen und von all denen, die Vorbilder suchen und brauchen», so Hungerbühler.

Das pyrenäische Mädchen im Mittelpunkt

Mit dem theologischem Input können die Reisenden Lourdes neu erfahren. | © Monika Hungerbühler

Bei den Aufenthalten in Lourdes möchte Hungerbühler Bernadette mehr Raum geben, ihr eine Stimme geben. Wie schildert das Mädchen das, was es gesehen hat? Bernadette beschreibt eine weibliche Person – so gross und so alt wie sie, barfuss, wie sie, die im selben pyrenäischen Dialekt zu ihr spricht. Wenn sie später davon berichtet, bezeichnet sie die Erscheinung in ihrem Dialekt als «Aquerò», zu deutsch «das da». Bis zuletzt übernimmt sie an keiner Stelle die Bezeichnung von der Jungfrau Maria. Etwa ab der Mitte der Erscheinungen wird der Druck seitens der Kirche so gross, dass sie die Erscheinung fragt, wer sie sei. Diese antwortet ihr: «Ich bin die unbefleckte Empfängnis.» Ab diesem Zeitpunkt hat das, was sie erlebt hat, das für sie «ganz Andere», das Unaussprechliche, einen Namen und die Menschen um sie herum können es nun verstehen und Anteil daran haben. Einige Jahre später wird ein Bildhauer beauftragt, eine Statue für den Wallfahrtsort anzufertigen – sie steht bis heute dort. Bernadette wurde bei der Konzeption nicht miteinbezogen. Als sie die Statue sieht, sagt sie: «So hat sie nicht ausgesehen. Sie hat mich angesehen, ihr Kopf war mir zugeneigt.» Doch Bernadettes Meinung scheint keine Rolle zu spielen. Die feministische Wallfahrt setzt dem etwas entgegen, sie gibt den Pilgernden die Möglichkeit, genauer auf Bernadette zu schauen. Mit diesem Wissen über das Mädchen, dem sich die Erscheinung gezeigt hat, können sich die Reisenden dem Ort neu widmen.

Schwarze Madonnen

In Rocamadour können die Pilgernden die Schwarze Madonna auf sich wirken lassen. | © Thérèse Gaigé/Wikimedia Commons

Lourdes ist aber nicht die einzige Station der Wallfahrt. Auf dem Programm stehen noch weitere Orte, an denen die Pilgernden einen neuen Zugang zu Maria bekommen. «Ein schönes Beispiel ist der Ort Rocamadour», führt Hungerbühler aus. «Es gibt hier eine Kapelle mit einer Schwarzen Madonna. Der Wallfahrtsort ist ein mittelalterliches, mehrstöckiges Städtchen an einem Hang. Von dort hat man eine fantastische Aussicht. Auf den verschiedenen Ebenen der Stadt befinden sich verschiedene Kirchen und Kapellen. Bereits im Car auf dem Weg dorthin gebe ich den Pilgerinnen und Pilgern Informationen zum Ort, zu der Schwarzen Madonna im Speziellen, aber auch zu Schwarzen Madonnen im Allgemeinen und zu verschiedenen Marienbildern. Ausserdem verschickte ich nach der Reise Handouts, sodass die Menschen die Infos nochmals nachlesen konnten. Das Thema ‹Schwarze Madonna› ist auch ein sehr spannendes. Wir gehen der Frage nach, wie ihr Zusammenhang zu anderen schwarzen Göttinnen ist.» Insgesamt möchte Hungerbühler mit ihren Wallfahrten Frauen – und auch interessierte Männer – erreichen, die die Tradition kennen und denen es ähnlich geht, wie ihr, bevor sie sich intensiver mit dem feministisch-theologischen Blick auf Lourdes auseinandergesetzt hat: Menschen, die bei einer traditionellen Wallfahrt sagen würden: «Lourdes, das ist nichts für mich.» Ihnen soll die Wallfahrt die Möglichkeit geben, Marienwallfahrtsorte als Kraftorte für Frauen zu entdecken.

Leonie Wollensack