Was jede/r tun kann: Hinschauen, wie andere mit schwerer Krankheit umgehen und versuchen, davon für die eigene Haltung zu lernen. | © Josh Appel/Unsplash
Was jede/r tun kann: Hinschauen, wie andere mit schwerer Krankheit umgehen und versuchen, davon für die eigene Haltung zu lernen. | © Josh Appel/Unsplash
22.02.2024 – Impuls

Lukas 12,22bf.25f.30bf

Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen sollt, noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt! Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung [] Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Spanne verlängern? Wenn ihr nicht einmal etwas so Geringes könnt, warum macht ihr euch dann Sorgen um das Übrige? [] Euer Vater weiss, dass ihr das braucht. Vielmehr sucht sein Reich; dann wird euch das andere dazugegeben.

Einheitsübersetzung 2016

 

Auf was wartest du? Werde wesentlich!

Wer mit kranken Menschen ins Gespräch kommt und ihnen fördernd zuhört, der nimmt sehr unterschiedliche Strategien wahr, wie sie ihr Schicksal bewältigen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, sind vielleicht auch schon einmal ernsthaft erkrankt. Wie sind Sie damit umgegangen? Bitte Denkpause einlegen!

Da gibt es die grosse Gruppe der Optimisten («Kommt schon gut»), man trifft die Kämpfer («Ich gebe nicht auf», «Das ist eine Prüfung»), die Geduldigen, die ihr Schicksal ertragen (sie fühlen sich als Zufallsopfer, eventuell Gott ergeben), jene, die sich auflehnen (gegen Umstände, Fehler anderer, die Zumutung Gottes) und wieder andere, die klagen, deprimiert sind oder ganz still.

Zu welcher Gruppe gehören Sie? Es gibt keine richtige oder falsche Einstellung. Darum müssen sich alle, die kranken Menschen förderlich zuhören wollen, immer wieder vor dem Vergleichen und dem Urteilen hüten. Man kann dem Depressiven nicht zum Optimismus raten. Man kann ihm nur nahe sein und mit ihm fragen. Aber jeder muss seinen eigenen Weg gehen. Diese letzte Einsamkeit ist bei aller Einfühlsamkeit und Liebe nicht aufzulösen. Was allerdings jede/r tun kann, in gesunden wie in kranken Tagen: Hinschauen, wie andere damit umgehen und versuchen, davon für die eigene Haltung zu lernen. Ich möchte ein Beispiel geben:

Am 27. Februar 1862 starb ein 24-jähriger Theologiestudent an Tuberkulose. Er hatte keine einfache Lebensgeschichte. Zuvor hatte er bereits einmal eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden. Wir wissen nicht, wie er damit umgegangen ist. Dann aber erschütterte ihn der Suizid seines Bruders und der frühe Tod seiner Schwester, die ihm sehr nahestand. Eines Tages wurde er sich bewusst, dass er nicht der erste war, der Schicksalsschläge zu ertragen hatte. Vor einem Bild der schmerzhaften Muttergottes hörte er in sich die Stimme, die er verstand: «Auf was wartest du? Folge deiner Berufung!» Er zog tatsächlich Konsequenzen und hatte daraufhin mehrmals beschrieben, dass seither eine tiefe Freude in ihm wohnte.

Wenn wir einmal den etwas problematischen Begriff «Berufung» (es geht hier nicht um etwas Kirchliches) durch «wesentlich werden» ersetzen, dann können wir der Geschichte des heiligen Gabriele für uns etwas abgewinnen, abschauen: Wie auch immer wir charakterlich gebaut sind und zu welcher der eingangs genannten Gruppen wir gehören; für uns alle führt die Auseinandersetzung mit Krankheit zur Suche nach der eigenen Wahrheit. Die erschütternde Begegnung mit unserer Vergänglichkeit drängt uns hin zur Frage: «Auf was wartest du?» Verschieben ist offenbar keine Option, das Leben findet jetzt statt!

Die Richtung des Suchens wird angedeutet: Werde dem treu, was deinem Wesen, deiner Seele, deinem Herzen, dem inneren Licht oder der Berufung entspricht. Das ist die Chance im Krankenbett, ob man nun wieder gesund wird, chronisch krank bleibt oder sich auf den Weg des Abschieds begeben muss. Das kann ein innerer Prozess sein, kann aber auch lebensgeschichtliche Konsequenzen (Neuorientierung) haben. In jedem Fall aber ist uns verheissen, dass die innere Freude und Sicherheit Einzug hält, wenn wir uns trauen, die Frage nach dem Wesentlichen in unserem Leben zu stellen.

Ludwig Hesse, Theologe und Autor,
war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland