Das kleine Rotkehlchen singt es vor, leise, zart, geradezu flüsternd: Frieden, immer wieder. | © Toon Machiels/pexels
Das kleine Rotkehlchen singt es vor, leise, zart, geradezu flüsternd: Frieden, immer wieder. | © Toon Machiels/pexels
28.12.2023 – Impuls

Buch Numeri 6,22-27

Der HERR sprach zu Mose: Sag zu Aaron und seinen Söhnen: So sollt ihr die Israeliten segnen; sprecht zu ihnen: Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen und ich werde sie segnen.

Einheitsübersetzung 2016

 

Zartes Rufen mit starker Friedensbotschaft

Ist es ein Ruf? Oder ein Klagen? Oder möchte das einsame Plaudern dieses Vogels mitten im Winter und im Dunkeln des langsam anbrechenden Morgens einfach singend da sein? Heute in der Frühe habe ich es auch wieder gehört. Es ist ein Rotkehlchen. Es weckt mich auf, aber es ist mehr als das.  Es ist für mich ein tiefgreifenderes Erwachen, viel mehr als ein Aufwachen nach einem Schlaf.

Der Österreicher Christoph Ransmayr schreibt in seiner Erzählung «Reviergesang»* etwas Ähnliches. Jedenfalls erinnerte ich mich an jene Lektüre im Herbst. Er begegnete im Winter auf einer langen Wanderung entlang der Grossen Mauer in der Volksrepublik China einem walisischen Vogelforscher, der den Vögeln mitten im Winter nachging. «Schneestill» sei es gewesen. Welch‘ wunderbares Wort! Sie hörten an einem Morgen, in der Einsamkeit, aus den Baumwipfeln nahe den machtvollen ehemaligen Wehrtürmen, einen Vogelgesang. «Das könnte eine Rotkehldrossel oder aber eine chinesische Amsel sein», meinte der Vogelforscher. Der Autor schrieb: „Ein Herbstvogel musste niemandem mehr gross imponieren. Der sang, wenn er denn sang, mehr für sich als für oder gegen irgendjemand anderen.“ Das kam mir wieder in den Sinn, als ich heute in der Frühe das Singen des Rotkehlchens hörte.

Und doch ist es für mich ein Rufen, ein leises, zartes, geradezu flüsterndes Rufen, eine Einladung mitten im Macht- und Imponiergehabe der Menschen und ihren Institutionen mit allen Auswüchsen: Es gibt noch mehr als all dies. Es gibt in uns eine zarte Einladung und einen Zuspruch, den wir so sehr brauchen: Shalom chaverim, Frieden bis zum nächsten Mal und immer wieder. Die kleine Rotkehlchenkehle singt es vor, vorbehaltlos, gratis, ohne sich beweisen zu müssen, in den dunklen, kalten und unwirtlichen Wintermorgen und erst recht in den Neujahrsmorgen hinein.

Und die Leseordnung des ersten Tages des neuen Jahres spricht Licht und Segen in unsere Erschütterungen Verunsicherungen und Fragen hinein. Sie entstammt der hebräischen Bibel.

 

Der HERR segne dich und behüte dich.
Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig.
Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. (Numeri 6,24-26)

 

Dieser Segen über jedes Leben steht für Gottes Langmut, seine Nähe und Zuwendung, für ein Leben in Frieden, für Zufriedenheit und Unversehrtheit. Der Segen ist und bleibt bedingungslos und unverbrüchlich. Wie sehr wünschen es sich die Menschen hier und dort und wir versuchend, nach vorne tastend und den Mut findend, mehr Mensch zu werden.

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, Seelsorgerin im Pastoralraum Gösgen

 

* in Atlas eines ängstlichen Mannes, Fischer Verlag 2012; (26) Moments Musicaux #11 | Christoph Ransmayr & Peter Rosmanith – YouTube