Christus zieht die Toten – die beiden Figuren werden als Adam und Eva gedeutet – mit Schwung aus ihren Gräbern. Wandmalerei zur Auferstehung aus dem Chorakloster in Istanbul (14. Jahrhundert). | © Ludwig Hesse
Christus zieht die Toten – die beiden Figuren werden als Adam und Eva gedeutet – mit Schwung aus ihren Gräbern. Wandmalerei zur Auferstehung aus dem Chorakloster in Istanbul (14. Jahrhundert). | © Ludwig Hesse
06.04.2023 – Impuls

Lukas 12,35–38

Jesus spricht: Eure Hüften sollen gegürtet sein und eure Lampen brennen! Seid wie Menschen, die auf ihren Herrn warten, der von einer Hochzeit zurückkehrt, damit sie ihm sogleich öffnen, wenn er kommt und anklopft! Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt! Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen. Und kommt er erst in der zweiten oder dritten Nachtwache und findet sie wach – selig sind sie.

Einheitsübersetzung 2016

 

Wach sein in der ungewissen Stunde

«Nichts ist gewisser als der Tod, nichts ungewisser als seine Stunde.» So brachte der Kirchenlehrer Anselm die Lebensweisheit auf den Punkt, in mittelalterlichem Latein selbstverständlich. Aber er begnügte sich nicht mit dieser einfachen Beschreibung. Es ging ihm um die Haltung der Wachheit in der Ungewissheit der Stunde des Todes. Denn für den glaubenden Menschen ist der Tod nicht nur das Ende des irdischen Lebensweges. Im Tod, unserem sicheren Schicksal, werden wir eins mit Christus in der Ewigkeit der Auferstehung.

Neulich habe ich Cecile getroffen. Cecile ist über 80 Jahre alt und tief in einem vertrauensvollen Glauben verwurzelt. Sie hat schon viele Menschen in ihrer Todesstunde begleitet, und sie scheut sich nicht, über ihren eigenen Tod zu sprechen. Allerdings macht sie sich da keine Sorgen, denn sie ist überzeugt, dass für sie gesorgt sein wird, wenn ihr Herz aufhört zu schlagen, ihr Gehirn aufhört zu denken und ihre Hände nichts mehr tun. Bereits jetzt, durchaus sehr lebendig, hat sie sich der Güte Gottes anvertraut. Darum macht ihr der Tod keine Angst, auch wenn sie die Stunde seines Eintretens nicht kennt. Sie ist bereit.

Ich höre Widerspruch: Theoretisch weiss ich, dass ich sterben werde. Aber erstens denke ich nicht gern daran, dass es auch mich treffen könnte, und zweitens lässt sich mein Sterben gar nicht vermeiden. Es trifft mich sowieso zur Unzeit.

Die Mahnung Jesu zur Wachsamkeit ist lange Zeit vernachlässigt worden, meine ich. Immer wieder ist sie auf die Wiederkunft Christi am Ende der Weltzeit bezogen worden, auf ein globales Ereignis. Das kann noch lange dauern. Da muss man ja müde werden. Es ist vernünftig, nicht jederzeit mit dem Weltende zu rechnen. Die Welt wird mich/uns/die Menschheit überleben, das ist wohl sicher. Allerdings kann uns bewusst werden, dass die «Welt» immer unsere eigene Welt ist und damit der «Weltuntergang» unser Tod. Die Wiederbegegnung mit Christus ist mein und dein Eintauchen in das Geheimnis der Auferstehung am Ende unserer Tage. Und damit ist sehr wohl zu rechnen.

Darum ist es wichtig, sich Gedanken um die eigene Wachsamkeit zu machen. Das bedeutet, den Tod nicht zu verdrängen, ihn vielmehr vorzubereiten. Dies geschieht äusserlich mit Testament und Patientenverfügung, sozial vielleicht mit Versöhnung und Loslassen. Im Glauben aber bedeutet Wachsamkeit die Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Auferstandenen, der uns die Hand reicht. Da ist die gewisse Bangigkeit nicht auszuschliessen, denn schliesslich werden wir vor der Wahrheit unseres Lebens stehen. Grösser als die Bangigkeit aber darf die Osterfreude sein, wenn tief in unserem Glaubensbewusstsein verankert ist: Gottes Liebe ist stärker als der Tod. Möge uns der Herr wach und bereit vorfinden, wenn er kommt, zu ungewisser Stunde, aber ganz gewiss.

Ludwig Hesse, Theologe und Autor, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland