Unermessliche Weite: Kloster Alcobaça nördlich von Lissabon, ehemalige Zisterzienserabtei mit der grössten Kirche Portugals. | © Sergei Gussev/wikimedia
Unermessliche Weite: Kloster Alcobaça nördlich von Lissabon, ehemalige Zisterzienserabtei mit der grössten Kirche Portugals. | © Sergei Gussev/wikimedia
11.08.2022 – Impuls

Psalm 139,8–12

Wenn ich hinaufstiege zum Himmel – dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt – siehe, da bist du. Nähme ich die Flügel des Morgenrots, liesse ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen. Würde ich sagen: Finsternis soll mich verschlingen und das Licht um mich soll Nacht sein! Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag (…).

Einheitsübersetzung 2016

 

Licht des Vertrauens, auch in der unermesslichen Weite

Hohe Säulen, schmucklos, Licht und nochmals Licht: Ehemalige Zisterzienserabtei Alcobaça, die grösste Kirche Portugals. | © Berthold Werner/wikimedia

Vor Jahren, als ich auf einer Portugalreise in eine Klosterkirche trat, habe ich die Grösse und Schönheit dieser Kirche nicht fassen können. Es war in Alcobaça, in einer der grössten Klosteranlagen der Zisterzienser aus dem 12. Jahrhundert, nördlich von Lissabon. Die Grösse unüberbietbar. Hohe Säulen, schmucklos, Licht und nochmals Licht. Nichts Farbiges, nur das warme Licht des Steins der Säulen und Decken und das hereinfallende warme Licht des Tages. Müde von der Hitze und der Reise schoss es mir durch den Kopf: Man kann es auch übertreiben mit der Einfachheit, ohne Schmuck, nur Stein und Licht. Dann vergass ich die Grösse und das Gefühl des Raumes, in dem der Mensch fast ein Nichts gegenüber der Weite und Höhe des Raumes und der Geschichte war.

Kürzlich, in der Müdigkeit und Hitze dieser Tage, kamen mir dieser Raum und sein warmes Licht wieder in den Sinn. Urplötzlich hatte ich alles vor dem inneren Auge. Erst jetzt erfasste ich etwas von der Grösse. Das Licht, unvergesslich, aufgehoben in der Geschichte der Aufbrüche, eingebettet in die Dramatik der Zeiten.

Meine Erfahrung verbindet mich mit dem heiligen Bernhard von Clairvaux. Dieser temperamentvolle, über alle Massen engagierte Mönch und Abt faszinierte seine Zeit. Der von seinem Denken inspirierte Bau in Alcobaça, wie auch zisterziensische Klöster in der Schweiz wie Maigrauge und Hauterive, führt zur Einfachheit und zur Tiefe, Einfachheit führt zum «Mehr». In seinen unzähligen Briefen, Auslegungen biblischer Schriften und Predigten führte Bernhard zur Tiefe des Glaubens und des unendlichen Vertrauens:

«Was ist Gott? Er ist Länge, Weite, Höhe und Tiefe.»

Solche Worte führen ins Zentrum, ins Herz der Menschen.

Die Weite, Höhe, Länge und Tiefe der Lebenserfahrungen erfassen wir oft erst im Nachhinein. Urplötzlich tauchen sie auf und erfüllen oder erschrecken uns: Aha, so war es – ich wurde damals beschützt. Oder wir denken im Nachhinein: Da wäre es entlang gegangen … Die Grösse der Schönheit, aber auch die des Elends, ist unermesslich. Wagt es, hineinzutauchen in die Grösse des Herzens, mag uns der umtriebige und engagierte Bernhard von Clairvaux ermutigen. Habt keine Angst.

Eine jenische Frau erzählte mir kürzlich unvermittelt in Einsiedeln, wie sehr sie erfüllt ist vom Wissen, dass Gott sie nie verlassen wird. Sie erlebte die schreckliche Trennung von ihrer Familie durch die Zwangsmassnahmen der Behörden in einem Heim, wo sie wiederum ausgestossen wurde. Jetzt lebe sie glücklich mit ihrer Familie in ihrem Wohnwagen auf einem Standplatz. In ihr leuchtet das Licht des Vertrauens.

Jenseits, weitab oder tief unten, wird Gottes Hand sicher führen und zum Rechten schauen (Verse 9–10 von Psalm 139).

Anna-Marie Fürst, Theologin, langjährige Gefängnisseelsorgerin, freiwillige Seelsorgerin in der Predigerkirche Zürich