Simon Erlanger, Historiker und Journalist, referierte in der Pfarrei Oberdorf BL. | © zVg
Simon Erlanger, Historiker und Journalist, referierte in der Pfarrei Oberdorf BL. | © zVg
31.05.2019 – Aktuell

«Schlimmste antisemitische Welle seit den 30er-Jahren»

Der Historiker Simon Erlanger sieht das jüdische Leben in Europa und in der Schweiz am Schwinden

Der Antisemitismus zeigt sich überall in Europa, auch in Basel – und die Zahl der Juden nimmt massiv ab, auch in der Schweiz: Zwei Eckpunkte aus dem Vortrag des jüdischen Basler Historikers Simon Erlanger bei der Römisch-katholischen Pfarrei in Oberdorf BL.

 

«Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen», liess Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung, am 25. Mai verlauten. Eine Woche zuvor hatte Simon Erlanger, Lehr- und Forschungsbeauftragter am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern, in Oberdorf Ähnliches aus der Schweiz berichtet: Es komme vor, dass Juden in gewissen Situationen die Kippa abnehmen würden. Und ja, auch er habe abends auf dem Heimweg schon Attacken erlebt, antwortete er auf eine Zuhörerfrage.

«Heute gibt es ein akutes Problem physischer Gefahr für Juden», machte Erlanger klar. Auf die Koschermetzgerei in Basel gab es fünf Angriffe. Ist die Muttenzerkurve gegen den Schiedsrichter aufgebracht, schreit sie «Jude, Jude, Jude». Am Zugang zum einzigen koscheren Restaurant in Zürich ist eine Sicherheitsschleuse eingebaut. Die jüdischen Gemeinden haben eigene Sicherheitsdienste. Es dauerte Jahre, bis nun der Staat einen Teil dieser Kosten übernimmt.

«Wir erleben in Europa zurzeit die schlimmste antisemitische Welle seit den Dreissigerjahren», fasste Erlanger nach einem Blick auf Deutschland und Frankreich zusammen. Die Zahlen der Schweizer Statistik über antisemitische Vorfälle stellte Erlanger in Frage.

 

Stille Auswanderung aus der Schweiz

Wie reagieren Schweizer Juden? Laut Erlanger leben derzeit noch 18 500 Juden in der Schweiz – dagegen 22 000 Schweizer Juden in Israel. «Pro Jahr wandern 240 bis 260 Juden aus der Schweiz nach Israel aus, meist die Jungen», so der Basler Historiker. So steht die Zukunft der jüdischen Präsenz in der Schweiz in Frage.

Dabei sind Juden eine seit Jahrhunderten hier ansässige religiöse Minderheit. Die ersten kamen mit den römischen Soldaten an den Rhein, im Mittelalter hatten alle grösseren Städte jüdische Gemeinden. Heute sind 80 Prozent der ansässigen Juden Schweizer Bürger, oft seit vielen Generationen.

Ein wesentlicher Teil von Erlangers Vortrag galt der Geschichte des Antisemitismus. So folgte die katholische Kirche jahrhundertelang der Substitutionstheologie, wonach die Christen die Juden als Volk Gottes ersetzt hätten. «Erst das II. Vatikanische Konzil verabschiedete sich davon», rief der jüdische Historiker seinem Publikum in Erinnerung.

 

Sensibilisierung als Gegenmittel

Wie lässt sich dem Antisemitismus entgegenwirken? «Wichtig ist, dass man sich des Problems bewusst ist», antwortete Erlanger. Die Sensibilisierung von Schülern durch jüdische Mitschüler sei sehr erfolgreich – «aber es ist ein Tropfen auf den heissen Stein.» In Oberdorf konnten Seelsorgerin Sabine Brantschen und Kirchgemeindepräsident Stephan von Däniken ein kleines, aber sehr interessiertes Publikum im Saal unter der Kirche begrüssen. Die Fragerunde hätte noch lange fortgesetzt werden können.

Christian von Arx