04.04.2019 – Editorial

Die Zeichen der Zeit

Rrrrrring, rrrrring – rrrrring, rrrring. Leider war es kein Scherz, sondern ernstgemeinte ­Realität, als mich am ersten Arbeitstag nach der Zeitumstellung der Wecker aus dem Land der Träume klingelte. Das bedeutete aufstehen, obwohl es draussen noch völlig dunkel war. Wie mitten im Winter fühlte es sich an, auch die Temperatur passte dazu. Und dann kündigte eine blutrote Morgensonne auch noch einen Wetterwechsel an.

Dabei hatte ich mich noch nicht allzu viele Stunden zuvor im Sommer angekommen gewähnt. Das erste Mal ohne Jacke unterwegs – so könnte es doch eigentlich bis November weitergehen. Und wozu eigentlich diese Umstellerei mit der geklauten Stunde im Frühling? Könnte es nicht gleich das ganze Jahr über Sommerzeit oder überhaupt Sommer sein? Ein Sommer wie am letzten Samstag im März: sonnig, aber nicht zu heiss, wobei ein paar Grade mehr schon noch drin liegen würden.

Beides könnte Wirklichkeit werden, aber möglicherweise nicht so wie man es sich in seinen Wunschträumen vorstellt. Mit dem Beschluss, die Zeitumstellung im Frühling und Herbst ab 2021 abzuschaffen, hat das Parlament der Europäischen Union die Weichen in Richtung ewige Sommer- oder auch Winterzeit gestellt. Jeder Staat kann respektive muss nun selbst entscheiden, was dauerhaft gelten soll. Das Ergebnis dürfte unser beschränktes Potential, mit Veränderungen positiv umzugehen, erneut auf die Probe stellen. Willkommen im Zeitchaos von Europa 2022!

Vielfalt hat zweifellos ihren Reiz, aber die Vorstellung zweier Zeitordnungen in der gleichen Zeitzone erscheint eher lästig denn verführerisch. Und auch wenn nun die einzelnen Staaten im vorgegebenen Rahmen autonom über ihr Zeitmodell bestimmen würden, dürfte die demokratische Legitimierung der EU kaum wesentlich steigen. Dies wäre aber angesichts anderer, wesentlich existenziellerer Probleme dringend nötig, um die erforderlichen Lösungen zu ermöglichen.

Kriegt die Menschheit in der Klimafrage nicht doch noch die Kurve, so droht ein ewiger Sommer, der unser (mitteleuropäisches) Vorstellungsvermögen strapaziert, für manche Mitbewohner und Mitbewohnerinnen unseres Planeten aber bereits teilweise Teil ihres Alltags geworden ist. In Sachen Klima stehen die Zeichen der Zeit auf Sturm.

Regula Vogt-Kohler