21.03.2019 – Editorial

Streiken

Die Sonne scheint und lässt den über Nacht gefallenen Schnee glitzern. Die Temperatur ist deutlich unter den Nullpunkt gefallen, doch nach ein, zwei Kilometern auf der Loipe sind die klammen Finger vergessen. Als ich in den märchenhaft verschneiten Wald einbiege und die lange Steigung in Angriff nehme, frage ich mich, ob ich mich nicht doch zu warm angezogen habe.

Fast zwei Stunden lang konzentriere ich mich darauf, den Berg hochzukommen, ohne auszurutschen, und die Abfahrten ohne Sturz zu bewältigen. Fast Meter für Meter erlebe ich, dass Schnee nicht einfach Schnee ist. In schattigen Abschnitten präsentiert sich die Spur als Eiskanal, während sich dort, wo die Sonne schon tüchtig eingeheizt hat, der Schnee unter den schmalen Latten nass, schwer und klebrig anfühlt. Nach einem letzten Aufstieg ist es geschafft, und ich steige in den Bus, der mich in wenigen Minuten zurückbringt. Aus der Ferne betrachte ich die Landschaft, die ich auf den Langlaufskiern durchquert habe, und weil ich mich nun nicht mehr mit eigener Kraft vorwärtsbringen muss, bleibt genügend Energie für Gedanken, die über die Loipe hinaus reichen.

Es ist Freitag, der 8. März 2019. Ein Wintertraumtag, aber nicht nur. Es ist auch Internationaler Tag der Frau, und der Wochentag Freitag ist neuerdings mit dem Engagement in Sachen Klima verbunden. In beiden Bereichen herrschen Notstände, die es angezeigt erscheinen lassen, zum Kampfmittel des Streiks zu greifen. Freitag für Freitag folgen Schülerinnen und Schüler dem Aufruf der Schwedin Greta Thunberg zum Schulstreik fürs Klima und schwänzen den Unterricht, um für den Schutz des Klimas zu demonstrieren; und für Freitag, 14. Juni 2019, ist in der Schweiz ein nationaler Frauenstreiktag angesagt.

An einem Tag wie dem 8. März 2019 fällt es schwer zu glauben, dass die Lage wirklich ernst ist. Schnee liegt haufenweise, und wir Frauen in unserer Dreigenerationenferiengruppe werden von der Verantwortung fürs Mittagessen entbunden, ohne erst den Streik ausrufen zu müssen. Der Blick über dieses Idyll hinaus zeigt jedoch, dass Handlungsbedarf besteht. Wem könnte das bewusster sein als jemandem, der sich beruflich mit einer Institution befasst, die den Frauen nicht die gleichen Rechte gewährt wie den Männern. Und was den Klimawandel anbelangt, reicht allein schon die Erinnerung an alle die Winter, in denen die nun mit viel Schnee bedeckten Hänge mehrheitlich braun statt weiss gefärbt waren.

Regula Vogt-Kohler