14.04.2018 – Hintergrund

Jahrelang weggeschaut

Untersuchungsbericht zu Missbrauch im Schweizer Kapuzinerorden

Jahrelang konnte ein Mitglied des Kapuzinerordens sexuelle Übergriffe verüben. Ein vor Kurzem präsentierter Untersuchungsbericht dokumentiert Ursachen und Hintergründe für das Versagen des Ordens, der viel zu lange wartete, bis er Massnahmen ergriff.

Das Fazit des 160-seitigen Berichts, den die unabhängige Untersuchungskommission im Fall des pädophilen Kapuziners Joël Allaz Ende März der Öffentlichkeit vorgelegt hat, ist klar: Durch ihr Schweigen trugen der Kapuzinerorden und die Kirchenleitung dazu bei, dass der Täter lange Zeit nicht juristisch belangt wurde. Beim «Fall Allaz» handle es sich um einen «schweren Fall von Pädophilie», bei dem das Bistum Lausanne, Genf und Freiburg (LGF) und der Kapuzinerorden ein Vierteljahrhundert lang das Eingreifen der Justiz untergraben hätten. Dies hält die Kommission, die im Auftrag der Kapuziner und unter dem Vorsitz von Alexandre Papaux, ehemaliger Freiburger Kantonsrichter, tätig war, in ihrem Bericht fest. Die Taten selber reichten über ein halbes Jahrhundert zurück: Die ersten sexuellen Missbräuche durch den Kapuziner seien im Jahr 1958 geschehen.

Für die Unabhängige Kommission veranschaulicht dieser Fall die Schwierigkeiten der katholischen Kirche, «das abnormale Verhalten bestimmter Geistlicher gegenüber Minderjährigen allein zu bewältigen». Die Kirche habe lange Zeit «eine defensive Haltung eingenommen», indem sie sich damit begnügt habe, den misshandelnden Priester samt seinem Problem zu versetzen und ihn dadurch der Justiz zu entziehen, betonte Papaux.

Augen geschlossen und geschwiegen

Der ehemalige Kantonsrichter beklagte den Mangel an Mut und Verantwortungsbewusstsein einiger Zeugen der Taten, «die es vorzogen, die Augen zu schliessen und zu schweigen». Er bedauerte das Schweigen der katholischen Gemeinschaft und der Zivilgesellschaft angesichts dieser Verbrechen, die mangelnde Hartnäckigkeit des Walliser Ermittlungsrichters von 1995, der seine Untersuchung wegen Verjährung einstellte, ohne Joël Allaz anzuhören oder dessen persönliche Situation zu untersuchen, was weitere Missbräuche hätte verhindern können.

Der Bericht verurteilt die «Leichtigkeit im Umgang mit den Missbräuchen, auf die die Hierarchie in den Jahren 1970 bis 1980 aufmerksam gemacht wurde». Die Kommission bezieht sich insbesondere auf die Vorgesetzten des Kapuziners Joël Allaz, als dieser im Wallis wohnte (1973 bis 1977). Die Vorgesetzten des Kapuziners, Gervais Aeby und Guérin Zufferey, hätten sofort handeln und Allaz beispielsweise jede weitere Arbeit mit Kindern verbieten müssen.

Massnahmen seien ergriffen worden, aber viel zu spät. Dazu gehören die Entfernung von Allaz aus allen kirchlichen Funktionen, die faktische Einschliessung in ein Kloster mit Ausgehverbot (2005) und schliesslich die Anzeige bei der Glaubenskongregation in Rom (2017). Diese Anzeige hatte zur Folge, dass die Glaubenskongregation Allaz in den Laienstand versetzte und aus dem Orden ausschloss (2017).

Das Leid der Opfer

Bruder Agostino Del Pietro, Provinzial der Schweizer Kapuzinerprovinz, räumte ein, dass in seiner Gemeinschaft die Beweise für Joël Allaz’ Handeln lange Zeit zu wenig ernst genommen oder sogar verharmlost wurden, «um den guten Ruf des Ordens und der Kirche zu bewahren». Das Leid der Opfer könne nicht durch eine finanzielle Entschädigung oder eine Therapie kompensiert werden, hielt der Tessiner Ordensmann fest. Denn die psychischen Wunden der Opfer dauerten ein Leben lang an.

Schweigen ermuntert Täter

Ein Problembewusstsein sei heute vorhanden, bemerkte Alexandre Papaux. Dennoch sei es notwendig, dass die Massnahmen auf allen Ebenen der Kirche angewendet würden. «Die Opfer müssen sprechen, das Wort befreit, und Schweigen ermutigt die Täter!»

Mit etwas Verzögerung auf die gesellschaftlichen Entwicklungen beginne die kirchliche Morallehre, die neueren Erkenntnisse der Sexualwissenschaften aufzuarbeiten, nicht zuletzt, um ein positiveres Verhältnis zur Sexualität zu gewinnen, hält eine Erklärung des Provinzials fest. Es gehöre heute dazu, dass man über Fragen im Umgang mit der Sexualität frei diskutieren könne. Inzwischen sei eine fundierte Auseinandersetzung mit der Sexualität ein fester Bestandteil in Aus- und Weiterbildung.

Neues Strafverfahren in Frankreich

Allaz habe anlässlich der Bekanntgabe seiner Entlassung aus dem Priesterstand im Mai 2017 gestanden, in Frankreich weitere Kinder missbraucht zu haben, ohne ihre Namen zu nennen. Diese Aussagen hätten die ehemalige Freiburger Ermittlungsrichterin Yvonne Gendre, heute Staatsanwältin, dazu bewogen, den Fall am 16. Januar 2018 erneut an die französischen Justizbehörden zu überweisen, hiess es an der Medienkonferenz der Untersuchungskommission.

Jacques Berset, kath.ch; kh