Charakterköpfe aus Granit: Das Denkmal am Mount Rushmore in Süddakota, mit den Gesichtern der US-Präsidenten (von links) George Washington, 
Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln. | © Dean Franklin/wikimedia
Charakterköpfe aus Granit: Das Denkmal am Mount Rushmore in Süddakota, mit den Gesichtern der US-Präsidenten (von links) George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln. | © Dean Franklin/wikimedia
13.09.2018 – Impuls

Jesaja 50,5–9a

Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück. Ich hielt meinen Rücken denen hin, die mich schlugen, und denen, die mir den Bart ausrissen, meine Wangen. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel.

Doch Gott, der Herr wird mir helfen; darum werde ich nicht in Schande enden. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiss, dass ich nicht in Schande gerate. Er, der mich freispricht, ist nahe. Wer wagt es, mit mir zu streiten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer ist mein Gegner im Rechtsstreit? Er trete zu mir heran.

Seht her, Gott, der Herr, wird mir helfen.

Einheitsübersetzung

 

Manchmal brauchen wir ein hartes Gesicht

Vor noch nicht langer Zeit glaubte ich, dass man allein mit Freundlichkeit, Anstand und Wissen eine Sache durchbringen kann und auch reüssieren wird. Das ist naiv. Natürlich sind mir diese Werte wichtig. Aber sie reichen nicht. Es braucht Hartnäckigkeit, Mut, Integrität und Ehre. All dies bewahrt nicht vor Rückschlägen und Beleidigungen, im Gegenteil.

In der jetzigen kirchlichen Situation, so wie ich sie sehe, schäme ich mich ob diesen Missbrauchsskandalen in Grund und Boden. Als ich dieser Tage mit einem Gefängnisinsassen sprach, der so sehr wünschte, dass sein kleiner Sohn in die katholische Kirche hineingetauft würde, bemerkte ich sein Zögern. Seine Frau wird dem nicht zustimmen, denn sie ist entsetzt über so viele Priester in Amt und Würden, welche Kinder missbrauchten. Ich konnte nichts dazu sagen. Ein anderer junger Mann sagte mir im Gespräch: «Wissen Sie, ich würde nie zu einem Priester gehen, obwohl ich katholisch bin, weil man nie weiss.» Der Schaden ist immens und nicht absehbar. Wieviel Engagement, tiefgründiges theologisches Wissen, Sorgfalt, Spiritualität, Sensibilität und echtes Bemühen in der Begleitung von Menschen sind in vielen Menschen der Kirche da. Das Vertrauen wurde und wird verletzt. Findet die Kirche je wieder zu Glaubwürdigkeit?

Ich bin mit vielen Menschen im Gespräch, die sich vor einem Gericht verantworten müssen, weil sie zum Teil grosse Fehler gemacht haben. Sie lernen in einem Prozess, dazu Ja zu sagen, und bereit zu sein, für ihre Fehler zu bezahlen. Sie besprechen sich mit mir vor und nach den Gerichtsverhandlungen, obwohl ich keinen Einfluss auf die juristischen Abläufe habe, und das ist gut so. Es geht immer wieder um die Frage, wie sie äusserlich in Schande gerieten und versuchen, sich innerlich aufrecht zu halten. Sie suchen eine Rechtfertigung vor Gott und ein offenes Ohr.

Da fordert mich ein Satz in dem heutigen biblischen Text heraus: «Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kiesel; ich weiss, dass ich nicht in Schande gerate.»

Nett und freundlich sein reicht nicht, wenn es um die Missbräuche und Wahrheitssuche geht. Der Wahrheit in meinem eigenen Umfeld wie auch darüber hinaus ins Gesicht zu schauen, braucht Mut. Die Ernüchterungen sind hart. Ich hoffe, dass die Kirche den Mut aufbringt, alles ans Licht zu bringen, und dass alle Menschen, welche unermessliches Leiden zufügten und zufügen, zur Rechenschaft gezogen werden und die Verantwortung dafür übernehmen wie jeder normale Bürger auch. Es ist besonders wichtig, sich den Opfern zuzuwenden. Aber dies reicht bei Weitem nicht.

In den Schlagzeilen der «NZZ» schrieb man dem eben verstorbenen amerikanischen Senator John McCain zu, dass er ein Mann der Integrität, der Ehre, des Charakters und des Mutes war. Er stand für seine Überzeugungen ein, manchmal auch als Einzelgänger, und bewirkte trotz massiven Tiefschlägen einiges. Wir können nicht in solche Fussstapfen treten – wir sind vielleicht zu gewöhnlich und ohne Macht, denke ich für mich. Aber Werte wie Integrität, Ehre, Charakter und Mut neu zu entdecken und zu pflegen, ist ein ehrenhaftes und schönes Lebensziel. Dazu muss unser Gesicht manchmal eindeutig, klar, ernsthaft, hart «wie ein Kiesel» werden. Denn «seht her, Gott, der Herr, wird mir helfen». Ich gerate «nicht in Schande» vor mir selber, vor den Anderen und Gott gegenüber.

Anna-Marie Fürst, Theologin, arbeitet in der Gefängnisseelsorge und in der Seelsorge für Menschen mit Behinderung in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt und Zug