13.09.2018 – Hintergrund

(Mit) Gott auf den Barrikaden?

Der Landesstreik von 1918 und die Kirchen

Vor 100 Jahren stand die Schweiz im Landesstreik von 1918 am Rand einer gefährlichen sozialen Konfrontation. Wie verhielten sich die Kirchen in dieser Auseinandersetzung?

Papst Leo XIII. bestimmte mit seiner Enzyklika «Rerum Novarum» von 1891 für Jahrzehnte die Haltung der katholischen Kirche zur sozialen Frage (Foto nach einer vom Verlag Benziger, Einsiedeln, gedruckten Postkarte). | © Gustavo Velarde/wikimedia commons
Der reformierte Pfarrer und Professor Leonhard Ragaz war mit seiner Zeitschrift «Neue Wege» (ab 1906) der führende Vertreter des religiösen Sozialismus in der Schweiz. | © Franz Schmelhaus, Zürich/wikimedia commons

Die zweite Industrialisierung bewegte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Kirchen. Der im Kulturkampf besiegelte säkularisierte Staat in liberaler Gesellschaft (Religionsfreiheit, Jesuiten- und Bistumsartikel, Gründung der Christkatholischen Kirche oder Apostolikumstreit) wurde in den politischen Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Kopf auf die Füsse gestellt. An die Stelle kirchlicher Bevormundung des Staates trat nicht die Freiheit, sondern das ökonomische Diktat des Kapitalismus. Unter dem Strich hatte für grosse Teile der Bevölkerung die Ohnmacht bloss den Absender und die politische Elite nur ihre Legitimationsgötter gewechselt.

Die weltweite katholische Kirche stemmte sich im Ersten Vatikanischen Konzil (1869/1870) energisch gegen die Moderne. Die schweizerischen Reformierten versuchten umgekehrt eine Annäherung, indem sie etwa die obligatorische Bindung an das Apostolische Glaubensbekenntnis abschafften. Die katholische Kirche in der Schweiz manövrierte sich in eine Ghettosituation, die reformierten Kirchen riskierten die profillose Anpassung an den Zeitgeist. Aber das Spiel nach demokratischen Regeln musste genauso erst gelernt werden wie ein kritisches Bewusstsein der Spielerinnen und Spieler. Wesentliche Forderungen des Oltener Aktionskomitees des Landesstreiks zielten deshalb auf demokratische Spielregeln: Proporzwahlen, Frauenstimmrecht und Ablehnung staatlicher Dienstverpflichtungen.

Der Landesstreik selbst bildete nur den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung. Bereits 1891 hatte Papst Leo XIII. (Amtszeit 1878–1903) in der ersten katholischen Sozialenzyklika «Rerum Novarum» die kirchliche Aufmerksamkeit auf die «Neuen Dinge» und die «soziale Frage» gelenkt. Mit dem programmatischen Titel der 1906 gegründeten Zeitschrift «Neue Wege» suchte ein Kreis um den reformierten Theologen und religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz (1868–1945) nach Alternativen in der kapitalistischen und militaristischen Industriegesellschaft. Materielle Not und politische Ohnmacht trieben die Arbeiter aus dem Schoss der Kirche in die Hände der Gewerkschaften. Die auf katholischer Seite seit den 1880er Jahren entstehende katholisch-soziale Bewegung setzte sich für die Arbeiterschaft ein, auch um sie an die Kirche binden und der Verfestigung gesellschaftlicher Klassengegensätze entgegenzuwirken. In den reformierten Kirchen dominierte ebenfalls eine liberal-konservative Grundstimmung. Aber aufgrund der flachen Hierarchien und des geringen Organisationsgrads prallten dort die gesellschaftlichen Konflikte ungebremst aufeinander.

Während die katholische Kirche generell das staatliche Feindbild vom Sozialismus teilte, galt er der religiös-sozialen Bewegung als bedenkenswerte Option. Das Bekenntnis «Ich bin Sozialist, weil ich an Gott glaube. […] Der rechte Sozialismus ist aus dem Geist des Evangeliums Jesu geboren» stammt nicht von einem «linken» Pfarrer, sondern von dem reformierten Zürcher Theologieprofessor Emil Brunner (1889–1966). Mit prüfendem Blick in die Bibel entlarvten Ragaz und Karl Barth (1886–1968, damals Pfarrer in der Arbeitergemeinde Safenwil) die vom Staat behauptete Bolschewismusgefahr als Strategie, um Repressionsmassnahmen gegen die eigene Bevölkerung zu begründen. In seinem Resümee zum Generalstreik attestierte Ragaz gerade dem Staat und Militär einen «Bolschewismus von oben»: «Was ist jene Taktik der Gewalt, die sich im Militäraufgebot und Zubehör verkörpert, anders als Bolschewismus […] Und was sind die berühmten ‹Vollmachten› des Bundesrates anderes geworden als ein Werkzeug der Diktatur, besonders in der Hand eines Mannes?»

Der Unmenschlichkeit politischer Herrschaft unkritisch zu folgen, war für Barth genauso Götzendienst, wie in politischen Ideen das Heil zu suchen. Diese Einsicht verbindet das kirchlich-soziale Engagement von 1918 mit dem Kampf der Bekennenden Kirche gegen den Nationalsozialismus, der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, der kirchlichen Antiapartheidbewegung, aktuell dem Engagement für Flüchtlinge und Vertriebene oder dem Bekenntnis gegen die Politik der Trump-Administration «Reclaiming Jesus. A Confession of Faith in a Time of Crisis». Die Gewissheit hinter diesem kirchlichen Engagement ist viel älter: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Apostelgeschichte 5,29) Gott ist der alleinige Souverän der Kirche und der Welt. Solange das feststeht, könnte er auch Sozialist sein oder auch nicht.

Prof. Dr. Frank Mathwig, Beauftragter für Theologie und Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund