14.08.2018 – Editorial

Danke für die Jahreszeiten

Welches ist für Sie die schönste Jahreszeit?

Die Frage begleitet mich seit meiner Kindheit. Ist es der Sommer mit seiner Freiheit und der Leichtigkeit des Seins? Der Herbst mit seiner Farbenpracht, seinen unvergleichlichen Stimmungen? Der Winter, der zur Innerlichkeit führt und uns empfänglich macht für die Wärme der Gemeinschaft? Oder doch der Frühling, der die Welt verwandelt und innert Tagen alles in tausend Nuancen von Grün neu aufschiessen lässt? Immer wieder lande ich bei der gleichen vorläufigen Zwischenbilanz: Die schönste Jahreszeit ist gerade jetzt – also immer dann, wenn mir die alte Frage in den Sinn kommt.

Diese Tage zum Beispiel, so ab Mitte August bis in den September hinein, lassen mich ein ums andere Jahr denken: Das ist der Höhepunkt, so ist Vollkommenheit. Die lähmende Sommerhitze ist vorbei. Die Frische des Morgens ist willkommen, die Wärme des Nachmittags wird jetzt genossen. Baden in Flüssen und Seen löst pures Glücksgefühl aus. Die Natur ­liefert Früchte in Hülle und Fülle, Beeren, Äpfel und Birnen, Zwetschgen, bald schon die ersten Trauben und Nüsse. Luft und Licht sind anders als eben noch im Hochsommer, Aussichten von absoluter Klarheit lassen uns staunen. Und erst dieses Abendlicht! Eine Spur Melancholie meldet sich, wir spüren, dass die Tage langsam kürzer werden. Aber noch ist es kein schmerzlicher Verlust, noch ist Zeit, um alles auszukosten. Ja, das muss die schönste Jahreszeit sein.
Schätzen können wir sie nur, weil sie vergeht. Wir brauchen den Wechsel und die jährliche Wiederkehr des Bekannten: Dieses Licht, die Klänge, Gerüche, Eindrücke auf der Haut, sie rufen die Erinnerung an all unsere früheren Sommer- oder Herbsttage wach. Das ist ein persönlicher Besitz, den einem niemand nehmen kann. Eine Heimat auf dieser Welt, auch wenn sonst nichts mehr ist wie früher.

Die Wiederkehr der Jahreszeiten lässt uns ahnen, dass wir Teil einer grossen Schöpfung sind – wie die Vorfahren im Mittelalter, in den biblischen Zeiten und in den fernen vorgeschichtlichen Epochen. Trotz aller Veränderungen der Technologie: Als emotionale Wesen ­leben wir auch heute noch intensiv mit den Jahreszeiten, mit dem Wetter und der Natur. Die Themen und Streitigkeiten unserer Zeit, so heftig sie uns auch bewegen und erschüttern mögen, sie prägen uns vielleicht weniger als das Erlebnis eines wunderbaren August- oder Septembertages.

Christian von Arx