04.11.2021 – Editorial

Pflicht und Liebe

In meinem Impfbüchlein fehlt eine Impfung, die in der Schweiz bis 1971 Standard war: die Pockenimpfung. Nicht weil meine Eltern Impfungen generell abgelehnt hätten. Weil ich als Kind oft krank war, war es schon schwierig genug, für die anderen Impfungen Termine zu finden. Die Konsequenz war eine Einschränkung meiner Freiheit: Verschiedene Reiseziele, beispielsweise die USA, waren für mich unerreichbar. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1980 die Pocken für ausgerottet erklärte, stand einem Trip ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten die fehlende Narbe am Oberarm nicht mehr im Wege.

Am 26. Oktober 1979 verkündete die WHO die Ausrottung der Pocken, einer der schlimmsten Geisseln der Menschheit, die schon im Alten Testament beschrieben ist. Möglich gemacht hat dies ein weltweites Impfprogramm. Davon haben alle profitiert, auch die Ungeimpften. Funktionieren kann dies allerdings nur, wenn sich die allermeisten impfen lassen und so dem Krankheitserreger den Boden entziehen.

Davon sind wir im Falle von Corona weit entfernt. Während sich die Schweizerinnen und Schweizer Diskussionen über das Covid-Zertifikat, indirekten Impfzwang und den Zugang zur Boosterimpfung leisten können, steht auf globaler Ebene in grossen Gebieten selbst für die Impfwilligen nicht genügend Impfstoff zur Verfügung.

Sich impfen zu lassen, sei ein Akt der Liebe, «für sich, für seine Familie und Freunde, sowie für alle Völker», hat Papst Franziskus im August 2021 gesagt. Die entwickelten Impfstoffe gäben Grund zur Hoffnung auf ein Ende der Pandemie, aber nur, wenn sie für jeden verfügbar seien. Sich impfen zu lassen, sei Christenpflicht, war an einer Podiumsdiskussion über Corona und die Suche nach neuen Normalitäten zu hören.

Was ist die Alternative? Würde der Verzicht auf einschränkende Massnahmen nicht in erster Linie Freiheit für das Virus bedeuten? Die Freiheit, sich nicht nur zu verbreiten, sondern dabei neue, möglicherweise deutlich gefährlichere Mutationen zu bilden. Sind die dunklen Monate im Herbst/Winter 2020/2021 mit Tausenden von Toten schon vergessen? Wie frei würde sich denn ein Leben anfühlen, wenn man auch im ganz normalen Alltag stets damit rechnen müsste, sich mit einer nicht ganz harmlosen Krankheit anzustecken?

Regula Vogt-Kohler