«Ob das Ziel des Synodalen Prozesses mit einem Marschbefehl von oben erreicht werden kann, muss füglich bezweifelt werden.» (Gottesdienst zum Abschluss der Bischofssynode am 28. Oktober 2018 im Petersdom). | © kna.de
«Ob das Ziel des Synodalen Prozesses mit einem Marschbefehl von oben erreicht werden kann, muss füglich bezweifelt werden.» (Gottesdienst zum Abschluss der Bischofssynode am 28. Oktober 2018 im Petersdom). | © kna.de
29.10.2021 – Impuls

Johannes 10,11–16

«Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. … Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.»

Einheitsübersetzung 2016

 

Die Schafe sind erwachsen geworden

Eine schillernde Figur, dieser Carlo Borromeo. Er profitierte von dem seit der Renaissance grassierenden päpstlichen Nepotismus. Aber in die Kirchengeschichte ging er ein als Prototyp einer neuen Generation von Bischöfen, die den Geist und die Beschlüsse des Trienter Konzils konsequent und zielstrebig umsetzen wollten, zum Beispiel mit der Schaffung von Priesterseminaren und über die Abhaltung von Diözesansynoden. Durch seine persönliche Askese und opferbereite Betreuung der Pestkranken gewann seine Verkündigung Strahlkraft und Glaubwürdigkeit. Als feuriger, ja unerbittlicher Vertreter der katholischen Gegenreformation wurde er von den einen bewundert, von den andern gehasst. Bis heute bezeugen Bilder, Altäre und Statuen in Kirchen und Kapellen die Verehrung und Dankbarkeit, die der Heilige hierzulande genoss, was ihm den Titel «Schutzpatron der katholischen Schweiz» eintrug. Selbst in die Mariasteiner Klostergeschichte ist er eingegangen; denn von 1906 bis 1981 stand die von den Benediktinern geführte Internatsschule in Altdorf als «Kollegium Karl Borromäus» unter seinem Schutz und Namen.

Borromeo verausgabte sich derart in seinem bischöflichen Amt, dass er bereits mit 46 Jahren am Ende seiner Kräfte war und starb. Fortan galt er als «Modellbischof im Sinne des Tridentinums», als «Leitbild für die Reform der Kirche nach dem Konzil von Trient». Das katholische Volk erkannte in ihm die Verkörperung des guten Hirten, der, nach dem Beispiel und in den Spuren von Jesus, sein Leben hingab für seine Schafe.

Freilich, so einfach liegen die Dinge nicht (mehr). Viele empfinden es als Zumutung, wenn das biblische Motiv vom guten Hirten und von der Herde zur Sakralisierung von sklerotischen Kirchenstrukturen eingesetzt wird und sich womöglich noch mit dem Stereotyp von den «folgsamen Schäfchen» verbindet. Auch lassen sich die krisenhaften Erschütterungen, die wir heute in der Kirche erleben, wohl kaum mit dem Instrumentarium des 16. Jahrhunderts bewältigen. Im Gegenteil. Die mit der Reformation und Gegenreformation einsetzende, weit ins 20. Jahrhundert fortdauernde Konfessionalisierung von Kirchen, Gesellschaften und Mentalitäten wird heute als eine historische Entwicklung wahrgenommen, die um des Evangeliums willen einschneidender Korrekturen und einer grundsätzlichen Neuausrichtung bedarf.

In diese Richtung weist der von Papst Franziskus gewollte Synodale Prozess, der in diesen Wochen in der katholischen Kirche weltweit anrollt, zur Vorbereitung auf die Bischofssynode von 2023. Ob allerdings dieses Ziel mit einem Marschbefehl von oben und innert knapp zweier Jahre erreicht werden kann, muss füglich bezweifelt werden. In manchen Belangen steht sich die Kirche gerade wegen der vom Konzil von Trient initiierten und von Carlo Borromeo umgesetzten Reformen selber im Weg bei ihrer Erneuerung. Ironie der Geschichte oder unergründlicher Wille Gottes?

Matchentscheidend ist der Verzicht auf Machtgehabe und Bevormundung, auf Besserwisserei und Anmassung, die Bereitschaft zum Zuhören und zum Umdenken, das Wagnis des Loslassens und des Neubeginns, die persönliche Lauterkeit ebenso wie die selbstlose Hinwendung zu den Randständigen, den Verlorenen und Zukurzgekommenen, die Offenheit gegenüber den Fragenden, Suchenden und Überforderten.

Um im Bild zu bleiben: Die Schafe sind nicht bockiger als im 16. Jahrhundert. Sie hören auch heute sehr wohl auf die Stimme des Hirten, der sie ruft und ins Haus des Vaters einlädt. Aber die Schafe sind erwachsen geworden.

Peter von Sury, Abt des Benediktinerklosters Mariastein