27.01.2018 – Editorial

Grand Canyon

Besonders hohe, aber auch besonders formschöne Berge und schwindelnd tiefe Gräben gehören zum Beeindruckendsten, was die Natur zu bieten hat. Wer das erste Mal das Matterhorn oder den Mount Everest in Echt zu Gesicht bekommt oder am Rande des Grand Canyon steht, der ist überwältigt. Es ist eine Überwältigung in einem positiven Sinn, selbst wenn der Gipfel oder der Boden der Schlucht für die meisten Besucherinnen und Besucher unerreichbar bleibt. Man kann sich am schönsten oder am höchsten Berg oder am tiefsten Abgrund vorbehaltlos freuen, wer es nicht aufs Matterhorn schafft, erleidet keine Ungerechtigkeit und hat keinen Grund, sich benachteiligt zu fühlen.

Ein anderer Graben öffnet sich aber dort, wo es darum geht, wer überhaupt die Möglichkeit hat zu einer entspannten Begegnung mit den Denkmälern, die uns die Natur hinstellt. Die Kluft zwischen Reich und Arm habe sich weiter vertieft, heisst es im Bericht der Entwicklungsorganisation Oxfam, der im Vorfeld des Weltwirtschaftsforums in Davos erschienen ist. Seit 2015 besitze ein Prozent der Weltbevölkerung mehr als der Rest des Planeten, hat Oxfam vor einem Jahr festgehalten. Eine wachsende Ungleichheit drohe unsere Gesellschaft auseinanderzureissen.

«Reward work, not wealth» – so lautet der Titel der Oxfam-Botschaft zu «Davos 2018». Arbeit und nicht Reichtum sollte belohnt werden. Um die Ungleichheitskrise zu beenden, brauche es eine Wirtschaft für gewöhnliche Arbeitstätige, nicht für die Reichen und Mächtigen. Gefährliche, schlecht bezahlte Arbeit für die vielen ermögliche den Reichtum für die wenigen. Noch nie sei die Zahl von Milliardären so stark gestiegen wie im vergangenen Jahr. Als Hauptgewinner des Vermögenswachstums nennt Oxfam Männer im globalen Norden, als Hauptverlierer Frauen, vor allem im globalen Süden.

Die Ungleichheit drückt sich nicht einfach in blossen Zahlen darin aus, dass einige wenige viel, viel mehr haben als die meisten anderen. «Die Superreichen meinen, dass sie nicht mehr ein gemeinsames Schicksal mit den Armen teilen», heisst in der Online-Ausgabe des «Guardian». Der «Guardian» zitiert dazu den amerikanischen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald: «Die Reichen unterscheiden sich von uns.» Ihr Vermögen mache sie zynisch, wo wir vertrauensvoll seien, und ihr Wohlstand lasse sie denken, sie seien besser als wir. Das minimiert die Hoffnung, dass es in der tiefverschneiten Wintermärchenlandschaft von Davos zu einem Durchbruch für das Wohl der vielen kommt.

Regula Vogt-Kohler